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»Dazu ist es zu spät!«

Die Stille schallte lauter als jeder Schrei. Krej und Kelos waren wie auf Befehl beide verstummt.

»Die Liga hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte Krej leise.

»In dir ist nichts mehr von einem Menschen«, erwiderte Kelos.

»Kelos! Wie kommst ausgerechnet du dazu, mir das zu sagen?«

»Eure Pläne sind Unsinn. Ihr seid auch ein Teil des Schattens … und nicht gerade sein bester.«

»Sie haben die Möglichkeit …«

Ich hörte den beiden nicht weiter zu, sondern stand auf und schob die Hand meines Großvaters beiseite, die auf meinem Knie lastete. Halte durch, alter Mann! Ich bitte dich, halte durch! Dann rannte ich los.

Das Tor schimmerte in der Dunkelheit. Es war nah, so nah …

»Pjotr!«

Ich rannte, und die Zweige peitschten mir ins Gesicht. Das Tor kam immer näher.

»Pjotr!« Ein Schlag traf mich an der Schulter. Kelos hatte mich eingeholt. »Bleib stehen! Du wirst sonst nie wieder zurückkommen! Denk daran, was ich dir erzählt habe! Pjotr, ich kann da nicht mitkommen!«

Er wäre beinahe ins Tor hineingestolpert. Ich schaffte es, stehen zu bleiben und ihn wegzuschubsen. Entweder wollte er sich also nicht wehren, oder seine Kampfreflexe waren doch nicht allmächtig. Kelos fiel direkt an der Grenze des veränderten Raums, noch vor der Linie, hinter der die Zukunft auf ihn wartete, diese blendende und nichtmenschliche Zukunft. »Warte hier!«, bat ich. »Das ist mein Weg.« Ich machte einen Schritt – und weißes Licht schlug mir in die Augen. Wie weh es tut, wenn man dich erfasst

Das Geschrei des Cualcua brachte mich wieder zur Besinnung, diese Schreie, die ich mittlerweile kannte.

Pjotr! Pjotr! Pjotr!

»Schrei nicht so …«

Die Worte blieben mir im Hals stecken. Mein Mund war voller Schnee. Ich lag am Fuße eines Hügels und erinnerte mich sogar vage daran, wie ich ihn hinuntergestürzt war, mich überschlagen hatte, über die Schneewehen geholpert, auf unter dem Schnee verborgene Steine geschlagen war, vor Schmerz geschrien hatte …

Die Rezeptoren sind betäubt. Die Regeneration des beschädigten Gewebes erfolgt.

Der Cualcua gab aber nicht lange Ruhe.

Pjotr! Pjotr!

»Halt endlich das Maul!«

Als ich mich hochrappelte, schmerzte mein ganzer Körper. Wenn ich bei betäubten Rezeptoren dermaßen litt – was war dann mit mir geschehen?

Oho!

Als ich den Hang hinaufspähte-, gewann der Cualcua meine uneingeschränkte Hochachtung. Meinen armen Körper nach einem solchen Fall wieder zusammenzubasteln – das war eine hübsche Arbeit für einen Gerichtspathologen. Ich war einen zweihundert Meter hohen Hang hinuntergestürzt, der derart steil war, dass kein noch so fanatischer Bergsteiger sich getraut hätte, ihn zu erklimmen. Zumindest nicht bei diesem Wetter.

Ein Schneesturm setzte ein. Nein, das war falsch, er setzte nicht ein, sondern er war hier zu Hause. Der Wind war zwar nicht sehr stark, aber das diffuse Gefühl, er würde sich selbst in Wochen nicht legen, wollte mich nicht verlassen. Winzige Hagelkörner schlugen mir in die Augen. Die trübe rote Scheibe der Sonne hing gotterbärmlich am Himmel. »He, Cualcua, erinnerst du dich noch an den Frischen Wind?«, fragte ich. »Sind wir vielleicht bei den Geometern gelandet?«

Die Schwerkraft und die Atmosphäre sind hier anders.

»Aha. Danke.«

Vielleicht war ich ein kompletter Vollidiot. Und zur Strafe bekam ich jetzt ein kurzes und inhaltsarmes Leben in einer Schneewüste … für ein paar Stunden, bis ich erstarrte.

»Dann verrat mir doch bitte, ob es hier Leben gibt!«

Der Cualcua antwortete nicht gleich. Wahrscheinlich benutzte er nicht nur meine Sinnesorgane, vermutlich sah er sich auch noch mit seinen eigenen Augen um, beschaffte sich mit Mitteln, die mir nicht zur Verfügung standen, Informationen …

Ja. Dreh dich nach links. Noch weiter. Stopp! In dieser Richtung, etwa einen Kilometer entfernt.

So angestrengt ich auch in die Richtung spähte, ich vermochte nichts zu erkennen.

Aber jetzt gab es keine Alternative mehr. Wenn du erst handelst und dann nachdenkst – was soll dabei schon Gutes herauskommen?

Ich schleppte mich durch den Schnee. Der Cualcua erfüllte mir meine Bitte und schwieg. Die Arbeit an meinem Körper setzte er jedoch fort, und ich spürte, wie meine Wahrnehmungsfähigkeit zurückkehrte und gleichzeitig die Kälte verschwand. Es war seltsam … das hatte ich schon einmal erlebt … ein Deja-vu … Nein, das war wirklich nicht die Welt der Geometer. Natürlich nicht. Aber wenn man ehrlich ist, bedeutet der ganze Schatten doch nun, im Kreis herumzulaufen. Die endlose Aufführung eines seit Langem einstudierten Stücks. Aus dem man nur herauskommt, wenn man aufhört, ein Mensch zu sein. Aber was tut man, wenn man genau das nicht will? Die Philosophen, Psychologen und Schriftsteller haben gut reden, wenn sie über das Schicksal der Menschheit sinnieren. Sie würde aussterben, über sich hinauswachsen, weitergehen, eine neue Stufe der Entwicklung erreichen … Ich will das nicht! Ich … ich will das nicht! Aber es gibt keinen anderen Ausweg, und deshalb werde ich mir den Kopf an den Felsen der Ur-Erde einschlagen, den Samen für die Tore herauskratzen, mich erniedrigen und betteln, dass man uns wenigstens diese Rettung, die mir so widerwärtig ist, zuteil werden lässt …

Durch den Schneeschwaden hindurch nahm ich vor mir dunkle Schatten wahr. Ich blieb stehen und rieb meine tauben Hände gegeneinander. Das sah aus wie Türme. Und Baracken. Ein Dejà-vu. Heda, Wendige Freunde …

»O …«

Dieser Laut, ganz in meiner Nähe, ließ mich zusammenfahren. Ich ging in die Hocke. Stöhnte da jemand?

Nein.

Ach du mein Heimatland,

So ungebunden weit …

Das klang eher nach einem Lied. Als ob jemand, der kaum Gehör oder Stimme besaß, in der Kälte versteinerte Worte vor sich hinmurmelte.

Du freies, großes Land …

Schließlich entdeckte ich den Sänger. Eine gekrümmte, eingeschneite Figur, in einem überdimensionalen, groben Pelzmantel. Es sah nicht so aus, als sei der Mann erfroren. Er saß auf einem Holzklotz, das Gesicht den Baracken und Türmen zugewandt, und murmelte in einem fort, murmelte ohne jede Intonation, vom Gesang zu breiigen Klagen übergehend.

»Kalt … verflucht … kalt …«

Für Menschen, die mit sich selbst sprechen, habe ich immer eine irritierende, mit Mitleid vermischte Sympathie empfunden. Wenn du mit deinem Leben zufrieden bist, suchst du den Gesprächspartner nicht in dir selbst, denn dieser Gesprächspartner ist zu schrecklich, zu unerbittlich.

Es folgte ein leises Knistern, als wickle jemand etwas aus in der Kälte steif gewordener Plastikfolie aus. Dann Geschnaufe, bevor der Mann in sein gefrorenes Essen biss. Danach wieder Geschnaufe.

Ich näherte mich ihm langsam von hinten. Als mich nur noch ein Schritt von ihm trennte, bemerkte ich das funkelnde Metall. Auf den Knien des ausgehungerten Sangesburschen lag eine Waffe, eine kurzläufige MPi. Ich erstarrte.

Ein Wachtposten. Es war nur ein Wachtposten.

Wäre es ein Wendiger Freund gewesen, wäre alles einfacher gewesen. Wesentlich einfacher. Wenn er schweigend dagesessen hätte oder auf und ab patrouilliert wäre, dann wäre es ebenfalls einfacher gewesen. Aber so … Von hinten über einen unbekannten Mann herfallen, der in unbequeme Kleidung gemummelt war und leise an einem Stück gefrorenen fetten Fleischs nagte, das wollte ich nicht.