Ich holte aus, zögerte dann aber. Hier stirbt ja niemand für immer. Das durfte ich nie vergessen. Und genau deshalb durfte ich das nicht tun, denn es würde alles rechtfertigen, alles, was man sich nur vorstellen kann, denn gerade das war das schrecklichste Geschenk der Tore: dass hier alles erlaubt war. Andererseits musste ich es tun, denn ich musste ja weitergehen …
Der Posten drehte sich um. Ich konnte gerade noch das erstaunte, grobe Gesicht erkennen, den Mund, der sich zu einem Schrei öffnete – dann schlug ich zu. Die Pelzmütze minderte die Wucht des Schlags zwar, aber entweder hatte ich mich gewaltig ins Zeug gelegt oder mein Gegner war ein ausgesprochener Schwächling. Jedenfalls brach der Posten im Schnee zusammen, ohne noch ein Wort herauszubringen.
»Wünsche angenehme Träume«, flüsterte ich, während ich die MP an mich nahm. »Träume ruhig von einer anderen Welt … einer warmen, zärtlichen Welt … und begib dich dorthin.«
Nach etwa zehn Schritt stieß ich auf einen Stacheldrahtzaun. Fünf Stränge, an denen Schnee klebte und die deswegen an eine Neu Jahrsgirlande erinnerten.
»An die Arbeit, Symbiont!«, befahl ich. »Abrechnen werden wir im Jenseits …«
Sobald meine Finger eine schwarze, glänzende Kruste überzog, berührte ich das eisige Metall und zerknipste einen Strang nach dem nächsten.
Nur gut, dass der Zaun nicht unter Strom stand. Und dass es keine Sender gab. Alles war so primitiv, dass es mich fast anekelte.
Glaubst du, dass du an den richtigen Ort gekommen bist?, fragte der Cualcua.
»Ja.«
Ich stiefelte durch die Schneewehen, aber wenigstens gab es hier Trampelpfade. Irgendwann fiel mir eine Einzelheit auf, die diesen Ort von den Sanatorien der Geometer unterschied. Ein Stück weiter, jenseits des Stacheldrahtes, ragten Fabrikgebäude auf. Die typischen Umrisse, der aus Schornsteinen aufsteigende Rauch, das schwache Sonnenlicht, das sich in den großen Fenstern spiegelte. Nein, wahrscheinlich beschäftigte man sich hier nicht mit der Begradigung der Uferlinie und zählte auch keine Erbsen.
Ich ging auf gut Glück weiter, ohne mich um Deckung zu kümmern. Vermutlich hatte man mich sowieso schon von den Wachtürmen aus entdeckt, mich allerdings nicht für einen Fremden gehalten.
Es war Tag. Und das war schlecht. Man würde arbeiten. Und ich wollte weiß Gott nicht alle Fabriken abklappern. Sonst würde ich mir am Ende noch eine Kugel einfangen. Die Möglichkeiten des Cualcua waren schließlich auch begrenzt, und der Eifer, der mich durch das Tor gebracht hatte, konnte wieder versiegen. Allerdings arbeitete man hier wohl rund um die Uhr …
Ich betrat die erstbeste Baracke. Eine Wache machte ich nicht aus. Drinnen war es warm, gelbe Lampen spendeten ein trübes Licht. Es stank. Und zwar ausgesprochen heftig, nach ungewaschenen Körpern, Tabak und Feuer, ein schwerer Geruch, fast wie verbranntes Masut; das Ganze ließ an einen Eisenbahnhof denken.
Mit zur Decke gerichteter MPi stand ich kurz da. Aus einem Etagenbett aus rohem, dreckgeschwärztem Holz drang ein gleichmäßiges, monotones Schnarchen herüber.
Wie ähnlich sich doch Waffen sind, in allen Welten.
Ich zog den Abzug durch, und ein Feuerstreifen schlug hoch zur Decke. Es war eine Waffe mit Munitionskugeln, nur dass die Kugeln loderten, als sie sich in die Decke bohrten. Sie flammten auf wie der Sternenhimmel, der so prächtig über dem Schatten leuchtete.
»Aufstehen!«, schrie ich.
Die Gefangenen purzelten wie Erbsen aus ihren Betten. Ich ließ meinen Blick über die verängstigten Gesichter schweifen, über diese einfachen, dummen Gesichter, wie es sie zuhauf auch auf Mütterchen Erde gab.
Warum war das Mütterchen eigentlich für uns die Erde und für die Geometer die Sonne?
Jene Grenze, die mit Worten nicht zu beschreiben war …
»Danilow!«, schrie ich. »Saschka!«
Die Gefangenen wichen vor mir zurück und drängten sich in einer Ecke der Baracke zusammen.
»Saschka!«, wiederholte ich, wobei ich eine zweite Salve in die Decke feuerte. Knisternd rieselten Funken herab.
»Pjotr?«
Ich ging durch die Baracke, die MPi im Anschlag. Bei einer Pritsche setzte ich mich auf den Rand. Wenigstens hatte sich Danilow das untere Bett sichern können. Alle Achtung.
»Hallo, Pjotr«, sagte er.
Danilow lag auf einer groben Felldecke. Er trug einen grau-blauen Overall und derbe Schuhe.
»Stehen Sie auf, Oberst!«, sagte ich. »Die Hilfe ist eingetroffen!«
Danilow sah mir in die Augen.
»Und wo sind deine Züge mit dem Kerosin, mein Junge?«
»Im Arsch. Steh auf! Es gibt keine Züge, Sascha. Ich habe nicht die Absicht, dich freizukaufen.«
»Das ist ungerecht, Pjotr.«
»Natürlich.« Ich hatte nicht vor, mich mit ihm zu streiten. »Es gibt keine Gerechtigkeit und wird sie auch nie geben. Ich nehme dich von hier mit. Und wenn ich dafür hundert Wachtposten umlegen muss, werde ich das tun. Glaubst du mir das?«
»Ja. Wir sind Gefangene unseres Schicksals, Pjotr. Verstehst du das denn nicht?«
»Nein, das verstehe ich nicht. Und deine Träume sind mir scheißegal.«
»Pjotr … jeder muss seine Rechnungen begleichen …«
Sprach da wirklich Saschka Danilow? Der Liebling aller? Der Herzensbrecher und vorbildliche Familienmensch? Dem alle jungen Piloten nacheiferten? Der Held der Krimkrise?
»Jeder trägt Schulden ab. Stehen Sie auf, Oberst! Die Heimat braucht Sie.«
»Ich kenne meinen Preis, Pjotr. Dreißig Waggons mit Kerosin.«
»Masut.«
»Kerosin, Petja … Die Jagdflugzeuge brauchen Kerosin …«
Ich zog Danilow am Kragen ein Stück hoch und schüttelte ihn. »Komm zu dir, Soldat!«
Wie kann ich dich brechen, Saschka Danilow, Oberst des FSB und unübertroffener Fuhrmann? Wie kann ich dich aus diesem Albtraum herausziehen, aus dieser Welt, in der du ein Verbrecher bist und ein Held und ein Henker und ein Opfer? Wie kann ich dich brechen – um deiner selbst willen? Um der Erde willen?
»Uns hat niemand Gerechtigkeit versprochen, Sascha …«
»Eben!«
Entspannt und völlig unerschüttert lag er auf seiner Pritsche. Bestand auf dem Recht, seinen Albtraum zu leben. Bestand auf seiner persönlichen und verdienten Zwangsarbeit.
»Saschka …«
Ohnmacht und Panik ließen mich fast in Tränen ausbrechen. War doch alles umsonst gewesen? Ich konnte mich aufbrauchen. Mich in den einen Wunsch verwandeln, Oberst Alexander Danilow zu finden, obwohl ich mit ihm weder verwandt noch verschwägert war. Alles war möglich. Nur dass für ihn diese Welt eben die einzig richtige und die einzig reale war. Die Welt, in der er unverdrossen für den dumpfen Seufzer der Vakuumbombe bezahlte, die die Hetman Masepa in Asche verwandelt hatte, jenes Symbol der militärischen Ambitionen der Ukraine, aber auch für die Menschen, in deren Adern das gleiche Blut fließt wie in unseren, die aber niemals durch ein Tor gehen werden …
Ja, Saschka, du bist ein Kriegsverbrecher. Das lässt sich nicht schönreden. Ich wäre es auch geworden, wenn ich etwas früher geboren worden wäre. Dann würde auch ich mich jetzt vor Scham und Verzweiflung winden, ohne zu wissen, wie ich meine Heimat lieben kann, die zwar immer noch bereit ist, für mich zu zahlen, mich aber nicht mehr beschützen will …
»Saschka …«
Was konnte ich ihm sagen? Er hätte mein Vater sein können, und nie im Leben würde ich sein Freund werden. Er war ein Verräter und ein Verbündeter in einer Person. Ein Kämpfer und ein Verbrecher, ein Ritter des Ruhmesordens und jemand, der am Ende doch nicht vor dem Londoner Tribunal gestanden hat, wo die Amis Russen und Ukrainer mit solch heiliger Freude in den Tod geschickt haben …