»Also, was bedeutet das? Kannst du mir das nicht erklären, Pit?«
»Doch … ich glaube, ich kann es erklären«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
Die Worte bildeten sich nicht neu, sondern schwammen aus meinem Gedächtnis heraus, wo sie sehr gut begraben gewesen waren:
»Doch dein Schatten
an der Wand
belauert jeden Augenblick
jeden Moment meiner Tage
und mein Schatten
macht das Gleiche
und bespitzelt deine Freiheit.«
Mein Großvater nickte. Er verzog das Gesicht, als sei er geschlagen worden. »Was für ein Regressor er doch gewesen ist, Petja«, flüsterte er. »Der beste Regressor der Geometer. Was für Idioten … dass sie ihn nicht zu schätzen wussten …«
In seinen Augen spielte der Schmerz sein Spiel. Und dieser Schmerz traf mich mit voller Wucht … denn es gibt keinen größeren Schmerz als den des Ausbilders … Dabei wollte ich doch um jeden Preis, dass er mich verstand. Dass er mich verstand und lobte und sich nicht länger grämte. Deshalb sagte ich:
»Doch so wie die Stunden einander nachschleichen
ohne je gemeinsam zu schlagen
verfolgen sich unsere Schatten
wie zwei Hunde aus demselben Wurf
losgelassen von derselben Kette
eingeschworene Feinde der Liebe beide
einzig und allein treu ihrem Herrn
ihrer Herrin
zwei Hunde
die geduldig
wenn auch zitternd in ihrer Qual
auf die Trennung der Liebenden warten.«
»So bist du also durch die Tore gekommen, Pit.« Das Gesicht meines Großvaters zitterte in Qual. »Aber natürlich … mit dieser Pflicht … mit dieser Kraft … was hast du denn?«
Cualcua!
Abermals zerriss mir eine Drahtbürste die Haut, bearbeitete Schmirgelpapier sie, glättete eine Feile sie unbarmherzig von der Innenseite.
Du hast doch den Befehl erteilt!, erwiderte mein Symbiont gekränkt. Du wolltest das Äußere von Nik Rimer.
Wirklich? Wollte ich das? Aber warum eigentlich nicht?
»Schließlich kehren wir in dem Schiff der Geometer zurück«, erklärte ich. »Warum soll ich da nicht schon vorher in die Haut von Nik schlüpfen?«
»Ja … natürlich.« Mein Großvater schloss kurz die Augen. »Du hast recht … Pjotr.«
»Und jetzt sollten wir besser schnell ins Schiff!«, bat ich. Warum machten sie bloß so traurige Gesichter? Warum wirkten meine sehr-guten-Freunde Mascha und Danilow, die so treue Freunde waren, dass sie einen Fehler mit Gewalt korrigieren würden, denn nur so gekränkt? »Wir müssen so schnell wie möglich zum Schiff!«
Ich döste die ganze Strecke über. Mit halbem Auge beobachtete ich meine vor mir sitzenden sehr-guten-Freunde. Das Innere des Schiffs der Liga ließ mich völlig kalt, sowohl die Steuerungssysteme, die für Mascha eingestellt waren, wie auch die Fortbewegungsprinzipien. Alles in dieser Welt ist zu verstehen. Alles wiederholt sich. Die äußere Form hat keine Bedeutung. Ein Schiff muss fliegen – wie es das bewerkstelligt, ist absolut zweitrangig. Der Mensch muss für das allgemeine Glück kämpfen – was auch immer mit ihm passiert.
Das Schiff verstand sein Handwerk.
Und ich das meine.
Meine sehr-guten-Freunde unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Glaubten sie wirklich, ich würde sie nicht hören?
»Es ist ein Fehler, den Menschen nur als Körper wahrzunehmen«, sagte mein Großvater. Er war weise. Er verstand, worauf es ankam … »Aber ein noch größerer Fehler ist es, den Menschen nur als Gedächtnis zu sehen, als Summe seines Wissens, als Ansammlung von Informationsbytes. Wenn wir einen Schritt weitergehen und behaupten, die Persönlichkeit werde durch die Sprache geprägt, dann kommen wir der Wahrheit weitaus näher.«
»Babylon-7«, sagte Mascha.
»Das stimmt zwar, ist jedoch zu vage. Denn die Sprache – das ist die Gemeinschaft, nicht das Individuum. Dafür bedarf es einer weiteren Einzelheit … der letzten. Der Kreativität. Es ist etwas nötig, das ein Individuum geschaffen hat, das nur durch seinen Verstand entstehen konnte. Damit kommen wir wiederum der Seele sehr nahe … gefährlich nahe. Der arme Junge Nik Rimer … dieser Regressor und Dichter. Er hat es nicht einmal geschafft, richtig zu sterben.«
»Ich könnte zu Pjotr gehen und mich eine Weile mit ihm … unterhalten«, sagte Karel.
Ich schlug die Augen auf und starrte den Reptiloiden an. Sein Maul verzog sich zu einem hastigen Lächeln.
»… nur würde das nichts nützen«, beendete Karel den Satz.
Abermals versank ich in Halbschlaf. Allerdings flehte ich – nur in Gedanken – das Schiff an.
Schneller, flieg schneller. Ich muss den Samen abliefern. Mein Planet ist in Gefahr. Es ist meine Pflicht, ihn zu retten.
Ihn zu erhalten, für das Universum und für die Freundschaft.
Pjotr, das Konklave mobilisiert seine Kräfte. Ein großer Teil der Torpp hat die Photosphäre ihrer Sterne verlassen. Die Alari haben zwei Geschwader gebildet … eine Hauptflotte und eine Hilfsflotte. Die Hyxoiden und Daenlo machen ihre Flotten bereit.
Vielen Dank. Aber wir werden es schaffen.
Es ist nicht nötig, mich darüber aufzuklären, welche Flotte meine Heimat niederbrennen wird und welche … welche …
»Pjotr!«
Sie standen alle dicht neben mir. Das Licht in dem ovalen Cockpit trübte sich. Auf den Bildschirmen flammten Sterne auf.
Guter Gott! Wie nahe sie waren! Wollten sie mir etwa den Samen wegnehmen?
»Pjotr«, wiederholte mein Großvater. »Wir sind da. Wir sind in der Nähe des Schiffs der Geometer.«
Ungeschickt erhob ich mich aus meinem Sitz.
»Wir können unsere Reise auch in diesem Schiff fortsetzen«, warf Mascha ein. »Die Liga stellt ihre Schiffe allen zur Verfügung, die einen Samen für die Tore bei sich haben.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind also schon da?«
»Du hast geschlafen«, sagte mein Großvater leise. »Weißt du, du hattest ein Gesicht wie ein kleines Kind. Ich wollte dich nicht wecken …«
Der Zähler zu Füßen meines Großvater durchbohrte mich mit seinem Blick.
»Und ich habe auch Karel nicht erlaubt, dich zu wecken«, fügte mein Großvater noch hinzu. Er trat zur Seite, damit ich vorbeigehen konnte.
Langsam ging ich zur Schleuse.
»Pjotr!«
Ich drehte mich nicht um. Die erste Luke. Die zweite. Dieses fremde Schiff … ein wenig Angst hatte ich doch vor ihm. Ich musste hier raus … so schnell wie möglich …
Die Luke nach außen öffnete sich – und ich blickte in den Himmel.
Ein schwarzer – ein tiefschwarzer – Himmel. Die blassen Sterne standen am Himmel – zu zweit, zu dritt, in Gruppen zusammen, doch all das brachte ihnen nichts, die Schwärze blieb mächtiger als sie. Weitaus mächtiger.
Ich sprang auf die steinerne Erde des Irrsterns, drehte mich zurück und reichte Mascha die Hand. Das Schiff der Liga lag direkt auf dem Boden, eine kantige Nadel aus Spiegelglas. Das Sternenlicht tanzte in den Seitenflächen.
Die anderen kamen nach mir aus dem Schiff, diese so nahen und so fernen Freunde …
»Gehen wir!«, sagte ich. Meine Stimme zitterte, ich hatte nicht mit dieser Aufregung gerechnet, die jedoch fragte natürlich nicht, ob sie willkommen war.
Der Scout der Geometer stand fünfzig Meter von uns entfernt, einsam und verloren in der öden Ebene. Wie viele von ihnen hier wohl schon gewartet hatten … von diesen toten, verkümmerten Schiffen, zu denen ihre Piloten nie zurückgekehrt waren?