Um mich herum war niemand. Das Internatsgebäude wirkte wie verlassen. Aber war das so undenkbar? Nachdem man den Tod des Ausbilders Fed entdeckt hatte, hätte man es durchaus evakuieren können. Und was für eine hübsche Überraschung das wäre, wenn ich gleich einer Aufklärungsgruppe aus hartgesottenen Regressoren in die Arme liefe …
Ich tauchte abermals im Schnee unter und versuchte einzuschlafen. Der Tag zog sich unerträglich in die Länge. Wahrscheinlich war der Scout schon abgeschossen worden. Ob die Geometer herausbekommen hatten, dass im Cockpit kein Pilot saß? Würden sie jetzt meine Flugbahn durchkämmen – schließlich wussten sie doch über die Invasionsmöglichkeiten Bescheid. Viele Fragen und keine Antworten. Ich redete mit mir selbst, rief Nik Rimer, der sich in meiner Seele versteckte, und stellte dem Cualcua sinnlose Fragen. Von mir selbst erfuhr ich nichts Neues, Rimer schwieg, und der Cualcua ließ sich nur zu einsilbigen Antworten herab, als quäle ihn ebenfalls etwas. Manchmal glaubte ich, alles, was passiert war – Mascha und Danilow, die sich als Mitarbeiter des FSB erwiesen hatten, der Schatten, der eine halbe Million Planeten in sich vereinigte, mein Großvater, der gestorben war und einen neuen jungen Körper erhalten hatte –, sei nur ein Traum. Ein Fiebertraum … denn eigentlich sei ich aus dem Lager der Geometer geflohen und würde jetzt im Schnee erfrieren. Vielleicht gab es auch keinen Pjotr Chrumow und hatte ihn auch nie gegeben, und ich war der verrückte Regressor Nik Rimer, der die Hand gegen seinen Ausbilder erhoben und daraufhin seine verdiente Strafe erhalten hatte …
Dann öffnete ich jedes Mal die Augen und schaute auf den Feuersamen. Er war real, realer als die vereiste Schneekruste um mich herum, realer als meine von der Blutstauung gerötete Handfläche, auf der er lag. Der Samen war das, worauf es ankam, während ich … nur ein wandelndes Zubehör war, das ihn in diese Welt gebracht hatte.
Irgendwann kam der Augenblick, da ich aus dem Schnee auftauchen konnte und sah, dass die blutrote Scheibe des Mütterchens hinter den Horizont kroch. Die Sonne war ebenfalls ein Samen, mächtig und leidenschaftslos, und auch sie vertrieb alle verwirrenden Nebel.
»Gib mich frei, Rimer …«, bat ich. »Gib mich frei, Schatten … gebt mich frei …«
Ich wollte weinen. Ich wusste nicht, ob ich das tun sollte, was Rimer wollte, und verstand nicht einmal, ob er das noch wollte. Schließlich musste es einen Grund haben, dass er verschwunden war. Wovon auch immer er geträumt haben mochte, welche Gedichte er in seiner Einsamkeit auch geschrieben haben mochte, er blieb das Fleisch vom Fleisch dieser Welt. Es war sein gutes Recht, ihr die Tore zu geben. Es war sein gutes Recht, sie mir zu geben. Nur Rimer konnte entscheiden, wessen Heimat in den Schatten eintrat.
Wenn das doch bloß alles bald vorbei wäre! Egal wie, Hauptsache vorbei. Vielleicht verfügte ich ebenso frei wie die Schiffe der Geometer. Vielleicht war ich eine Marionette wie der Junge namens Dari. Vielleicht war ich genauso glücklich wie Nik Rimer. Egal, wenn nur alles endete.
Ich stand auf. Mir war schlecht, der Kampf gegen die Kälte verlangte am Ende doch seinen Tribut. Es dämmerte bereits, und es fing an zu schneien … jetzt musste ich aufbrechen. Was auch immer mich erwartete.
Natürlich war es dumm, wieder den Weg durch die Kanalisation zu nehmen, aber ich kannte keinen anderen Eingang in diesen Kuppelbau. Sollten die Geometer allerdings dahintergekommen sein, wie der Fremde ins Internat eingedrungen war, dann wäre die Kanalisation jetzt entweder nicht mehr frei zugänglich oder mit Kameras gespickt. Auf dem Weg zur Glaskuppel machte ich noch einmal halt und dachte nach.
Es schneite immer heftiger. Es kam mir so vor, als wäre ich erst gestern hier gewesen …
Gestern? Nein! Es war ja schon vor einer Woche gewesen! Vor einer Ewigkeit! Mir war inzwischen alles egal.
Ich fand den bekannten Verschlag, der jetzt vollständig unter Schnee begraben war. Ich pflügte mich durch die Schneewehe, wobei ich jede Sekunde damit rechnete, dass ein Fangeisen zuschnappte oder mich ein Paralysator erwischte. Aber nein, nichts geschah. Da war die Tür, die Klinke. Ich zog sie auf und hörte das Rauschen des fließenden Wassers. Na gut, dann wollen wir die Geschichte mal als Farce wiederholen.
Aber gab es wirklich keinen anderen Weg? In das Gebäude führten drei Türen … die allerdings auf mich nicht reagieren würden. Vielleicht hätte ich sie in der Gestalt des Ausbilders Fed öffnen können, aber Fed war tot. Seine Fingerabdrücke waren garantiert längst aus dem Gedächtnis der Schlösser gelöscht worden.
Gut, komme, was da wolle.
Ich schlüpfte in den Verschlag, schloss die Tür hinter mir und sprang ins Wasser. Der Strom empfing mich, als sei er ein alter Freund von mir, voller Wärme und mit kameradschaftlichem Getätschel. Es spülte mich den engen Tunnel hinunter. Wer hätte das gedacht? Seid ihr wirklich so arglos, Geometer?
Ich wurde in den kleinen runden Raum mit dem Gitterboden ausgespuckt. Das Wasser brauste heulend über mich hinweg und rauschte weiter die Kanalisation entlang. Ich blieb liegen und sah mich um. Hier war niemand. Was irritierte mich dann?
In mir keimte ein ganz zarter Verdacht auf.
Nein, das war undenkbar! Unmöglich!
Aber hatten sie den Körper des Ausbilders Fed womöglich doch noch nicht gefunden?
Zählten sie ihn vielleicht immer noch nicht zu den Toten, mich aber nicht mehr zu den Lebenden?
Wer kontrolliert schon einen Ausbilder? Schließlich ist er ja über jeden Verdacht erhaben! Wenn der Ausbilder Fed beschlossen hatte, das Internat zu verlassen, dann war das eine zutiefst schmerzliche, jedoch absolut persönliche Entscheidung. Er würde zurückkommen und es erklären. Sicher, Katti hatte mich gesehen … noch dazu sowohl in der Gestalt Nik Rimers als auch in der Feds und meiner eigenen. Ob man ihr vielleicht einfach nicht geglaubt hatte? Oder sollte sie den Vorfall verschwiegen haben?
Kaum anzunehmen.
Auch die Jagd auf meinen Scout ließ sich durchaus erklären. Da näherte sich ein Schiff und behauptete, in ihm sitze der Regressor Nik Rimer. Dabei war doch allen bekannt, dass der Regressor Rimer gestorben war, als er sich im Sanatorium befand.
Seltsam … komisch … aber gut möglich.
Ich ging zur Schachtöffnung und stellte mich kurz unter den festen, breiten Strahl. Die Apathie und Gleichgültigkeit wichen von mir, wurden von der kalten Dusche fortgespült.
Komm schon, Petja … durchlauf diesen Kreis bis zum Ende.
Ich packte die kalten Bügel und kletterte die Filteranlage hoch. Unter der Luke wartete ich einen Moment in einer unbequemen gekrümmten Stellung.
Alles schien still zu sein. Ab und an meinte ich etwas zu hören, aber so leise und vage, dass es wohl eher das Blut war, das in meinen Schläfen rauschte.
Ich stemmte den Deckel nach oben, eine Handvoll Erde rieselte mir in den Ausschnitt, ich steckte den Kopf hinaus und fand mich unter der Kuppel wieder.
»Huch!«
Ein zarter Schatten huschte direkt vor meiner Nase vorbei. Beinahe hätte ich meinem ersten Impuls nachgegeben und ihn geschnappt und festgehalten.
So war es ja immer. Am einfachsten war es, etwas zu schnappen und festzuhalten.
Stattdessen öffnete ich jedoch meine Hand, und das orangefarbene Licht des Samens vertrieb die Dunkelheit.
Der rotblonde Junge, der da vor mir zurückwich, gegen einen Baum stieß und daraufhin erstarrte, tastete unbeholfen mit den Händen nach dem Weg. Ich erkannte ihn auf Anhieb. Etwas in mir verkrampfte sich.
»Till, hab keine Angst«, bat ich leise und kletterte endgültig aus dem Schacht heraus. Mit dem Fuß schob ich den Deckel wieder an seinen Platz. Der Junge beobachtete meine Bewegungen, allerdings ohne sonderliches Interesse.