Wahrscheinlich kannten alle Kinder im Internat dieses Große Geheimnis, den Filterschacht der Kanalisation.
»Ich habe keine Angst«, antwortete der Junge mit gedämpfter Stimme. »Wer sind Sie denn?«
»Ein schrecklicher Erdgeist.«
Er lächelte zaghaft.
»Und wenn du schreist, zerfalle ich in meine Einzelteile und verwandle mich in verfaultes Holz«, fuhr ich fort. Ich ging in die Hocke. Mit Kindern ist es wie mit Hunden … Verzeiht mir, ihr Geister von Pestalozzi und Makarenko. Aber man darf sie nicht dominieren. Man darf sie nicht durch die eigene Größe einschüchtern.
Schon gar nicht, wenn man mitten in der Nacht aus der Erde auftaucht, durchweicht, schmutzig und mit einer tierischen Entschlossenheit im Gesicht.
»Ich werde nicht schreien. Ich habe keine Angst.«
»Warum hast du denn geweint?«
Till rieb sich rasch die Augen mit dem Hemdsärmel ab. Er antwortete jedoch völlig ruhig, wenn auch leicht verärgert: »Kennen Sie das nicht? Manchmal … möchte man einfach weinen.«
»Das kenne ich, Till«, antwortete ich. »Es war eine dumme Frage. Entschuldige … dass ich dich gestört habe.«
»Macht nichts.« Der Junge hockte sich jetzt ebenfalls hin, hielt aber Abstand zu mir. »Und wer sind Sie? In Wirklichkeit, meine ich.«
»Ein nasser und hungriger Landstreicher. Er ist draußen herumgelaufen, dieser arme Kerl, schon ganz blau vor Kälte und zittert am ganzen Körper. Kennst du das?«
Nein, natürlich kannte er das nicht. Die Geometer haben keine angestaubten Weihnachtsgeschichten. Till sah mich an, als suchte er in meinem Gesicht nach vertrauten Zügen. Aber woher sollte er den toten Regressor Nik Rimer kennen?
»Sind Sie ein Ausbilder?«
»Nein. Ehrenwort.«
Er nickte. Das glaubte er mir. Neugier und Angst kämpften in ihm mit der Höflichkeit. Die Neugier siegte, wie immer.
»Und wer sind Sie?«
»Ein außerirdischer Kundschafter.«
Eine Sekunde lang schwieg der Junge. Trotzdem überzeugte ihn diese Version schon eher als die vom bösen Erdgeist.
»Ein außerirdischer?«
»Ganz genau.«
»Ein Regressor oder Progressor?«
»Nur ein Kundschafter. Ein Beobachter.«
»So was gibt es nicht.« Till schüttelte den Kopf. »Das wissen doch alle. Es ist aus ethischen Prinzipien unmöglich, sich nicht einzumischen, nach dem Garada-Riz’schen Gesetz …«
Mit einem Mal beruhigte er sich.
»Sie sind ein Ausbilder. Sie machen eine Prüfung mit mir. Ich weiß doch, dass das Unterricht ist. Unterricht in ethischer Wahl, wie ich mich verhalte, wenn …«
»Und wie verhältst du dich?«
Till hatte seine Angst anscheinend überwunden. Er rutschte näher heran. Seine hellen Hosen waren bereits über und über mit Dreck beschmiert, was Till aber nicht störte.
»Das ist eine schwierige Entscheidung«, sagte er leidenschaftlich. »Also … wie Garada bewiesen hat … wenn eine andere Zivilisation eine Ethik vertritt, die sich von unserer unterscheidet, wird sie sich nicht einmischen. Es kommt entweder zu einem primitiven militärischen Konflikt um die Einflusssphären oder zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen. Denn eine Einmischung nützt niemandem etwas. Aber wenn die Ethik mit unserer vergleichbar ist, dann muss man sich einmischen … schließlich kann niemand mit ansehen, wie seine Brüder leiden. Das rechtfertigt jede Einmischung. Habe ich das richtig erklärt?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist unmöglich, sich nicht einzumischen.«
»Aber dann hat Riz die Konsequenz aufgezeigt … dass wir nämlich, wenn wir anderen Rassen helfen, auch akzeptieren müssen, dass jemand sich bei uns einmischt … Das ist … äh … ein Falsches Axiom!«
»Und warum ist es falsch?«
»Weil es falsch ist«, gab Till erstaunt zurück.
»Und warum ist es ein Axiom?«
»Weil es sich nicht widerlegen lässt!«
Ich grinste. Die Welt der Falschen Axiome und der logischen Fehler. Das ist fast meine Welt.
»Und wie verhältst du dich jetzt? Ausgehend vom Garada-Riz’schen Gesetz?«
Till schniefte und wischte sich die letzten Spuren der kürzlich vergossenen Tränen aus dem Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Ich muss den Erwachsenen von Ihnen Mitteilung machen. Weil Sie ein außerirdischer Kundschafter sind und versuchen könnten, uns zu verändern. Aber dann verstoße ich gegen die Konsequenz von Riz … weil wir dann nämlich den zukünftigen Freunden von vornherein die Freiheit bei der Wahl der Ethik absprechen …«
»An der Stelle hilft dir dann aber das Prinzip des Geringeren Übels weiter«, bemerkte ich vertrauensvoll. »Oder das Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit. Es ist sehr leicht, sich selbst alles zu beweisen … was man gern möchte.«
Darauf loderte es in Tills Augen auf. »Sie sind ein Regressor!«, stelle er fröhlich fest. »Ich kenne diese Prinzipien, denn von denen habe ich in den Lehrbüchern gelesen. Das sind die Prinzipien der Regressoren!«
Vor Aufregung hätte er beinah nach meiner Hand gefasst. Er stoppte die Bewegung jedoch in letzter Sekunde. Ich konnte zwar ein Regressor sein, der Held aller Kinderphantasien, aber ich war eben doch kein Ausbilder.
»Und sind Sie zu uns gekommen, um … nein, ich sage kein Wort mehr!«
Die letzten Worte stieß er in einem verlangenden Ton aus: Na, kommen Sie, fragen Sie mich schon, was ich denke!
Und ich fragte.
»Sie suchen sich einen Jungen aus!«, platzte Till heraus. »Das weiß ich, denn das habe ich auch gelesen! So machen die Regressoren es, wenn es nötig ist, sich auf einem anderen Planeten einzunisten, und zwar nicht allein, sondern fast mit einer Art Familie, wie im Altertum, als sich Gruppen aus Männern und Frauen zusammentaten und manchmal auch noch Kinder aufnahmen! Sie wollen einen Jungen finden … oder ein Mädchen …« Seine Stimme verlor kurz ihre bisherige Fröhlichkeit. »… die das Kind von Ihnen spielen …«
Till sah mich zweifelnd an.
»Oder den kleinen Bruder …«
Ich schwieg. Der Samen in meiner Hand glomm, amüsiert und arrogant. He, Pjotr Chrumow! Bist du immer noch so überzeugt davon, dass die Erde den Schatten dringender braucht? Dass die Erde ohne dich nicht heil aus dieser Geschichte herauskommt? Und bei den Geometern im Großen und Ganzen alles in Ordnung ist?
»Glauben Sie nicht, dass ich noch zu klein bin«, sagte Till aufgebracht. »Ich kenne mich sehr gut aus in Geschichte. Vor allem im Burgenzeitalter. Die anderen Jungen und ich, wir spielen es sogar nach …« Plötzlich sank seine Stimmung auf den Nullpunkt. »Laki ist sogar noch besser in Geschichte als ich«, gab er selbstkritisch zu. »Und Fal, das ist ein Künstler. Wenn er einen Baron oder einen Priester spielt, nimmt man ihm das sofort ab. Man vergisst sogar, dass das alles nicht echt ist. Außerdem redet er keinen Quatsch. Und nie verhaspelt er sich. Mir passiert das manchmal.« Nach einer kurzen Pause fuhr er unsicher fort: »Grik versteht viel von der alten Technik … wenn es dort schon Maschinen gab …«
Der Junge war schon dort. Auf dem Planeten der zukünftigen Freunde, bei denen ein Regressor so schnell wie möglich mit der Arbeit loslegen sollte. Na gut, so schnell nun auch wieder nicht … schließlich wollte er dort erst mal ein Weilchen leben … so tun, als habe er eine Familie.
»Ob es dort auch große Familien gibt?«, fragte Till.
Wo dort, mein Junge? Auf dem Planeten Erde? Das kommt ganz darauf an. Aber diesen Planeten wird es bald nicht mehr geben. Nein, Quatsch, ich habe ja den Samen, wir treten in den Schatten ein, und alles wird gut. Alle Entarteten kriegen eine Welt nach ihrem Gusto, jeder Politiker erhält seine Bühne, und ohne Idioten und Politiker wird es sich endlich leben lassen … Ich könnte dich sogar mit zur Erde nehmen. Deine Freunde vielleicht auch. Mein Großvater würde sich vermutlich über das neue pädagogische Kampffeld freuen …