»Pass auf, Till, ich gebe dir jetzt noch keine Antwort, ja?«, schlug ich vor.
Er wurde wieder ganz aufgeregt. Er hegte offensichtlich keinen Zweifel, dass er mit jeder seiner Hypothesen den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Haben Sie da eine Taschenlampe?«
»Etwas in der Art.«
»Darf ich sie mal sehen?«
»Besser nicht. Noch nicht.«
Till nahm die Zurückweisung gleichgültig hin. Für ihn war dieser Feuerball nur eine ungewöhnliche Taschenlampe – also nichts im Vergleich zu der Perspektive, die sich ihm da gerade eröffnet hatte.
»Was sitze ich denn hier rum?«, sagte er plötzlich sehr ernst. »Sie sind ja schon ganz durchgefroren. Und bestimmt wollen Sie auch etwas essen?«
»Richtig geraten.«
»Gehen wir.« Till sprang auf und fasste mit einer bewusst beiläufigen Geste nach meiner Hand. »Schnell! Wir verstecken Sie in unserem Zimmer.«
»Und wie kommen wir am Posten vorbei?«, wollte ich wissen.
»Heute hat Fal Aufsicht«, erklärte mir Till lächelnd. »Er wird uns nicht melden. Was glauben Sie denn, wie ich mitten in der Nacht rausgekommen bin?«
»Und was ist mit den Kameras? Till, mein Junge, das ganze Internat wird überwacht.«
»Das wissen wir doch«, sagte Till stolz. »Aber wir haben im Moment keinen festen Ausbilder. Wir hatten einen, einen sehr, sehr guten! Den Ausbilder Fed. Aber er ist weggegangen, und wir haben noch keinen richtigen Ersatz bekommen …«
Genau!
Sie hatten Fed also noch nicht gefunden!
Und komisch, auch diesmal empfand ich keine Reue. Im Gegenteil, ich war stolz. Darauf, dass ich in der Gestalt von Fed in nur knapp einer Stunde eine solche Reputation erworben hatte!
»Und die Aushilfsausbilder, die sind so … die passen nicht ordentlich auf … Wir haben da nämlich ein System, damit sie uns nicht sehen können, wenn wir es nicht wollen. Ehrenwort, es wird Sie niemand bemerken!«
Ich war zu müde, um diesen Worten nicht zu glauben. Außerdem hatte Till an meiner Hand offenbar nicht die geringste Absicht, allein abzuziehen.
»Gut. Überredet.«
»Aber schnell«, wiederholte Till. »Fal wird bald abgelöst, da müssen wir schon drin sein …«
Sechs
Ich stand unter der Dusche und genoss das heiße Wasser. Es wäre schön gewesen zu baden, aber was nicht ist, das ist nicht. Hier gab es nur eine Duschwanne auf dem Boden. Niks Zimmer war nicht so asketisch gewesen. Kindern schadete es wohl, ein Bad zu nehmen?
Auf einem kleinen Regal lagen vier identische Stück Seife, standen vier Flaschen Shampoo. Der Flüssigkeitspegel in jeder Flasche war exakt derselbe. Ich stellte mir Till vor, wie er akkurat den vorgeschriebenen Klecks Shampoo abmaß, und schüttelte den Kopf.
Meine Kleidung, die mit mir sämtliche Abenteuer seit meinem Aufenthalt auf dem Planeten der grünen Umweltschützer überstanden hatte, steckte ich in die Waschmaschine. Rimer hatte keine Waschmaschine gehabt. Anscheinend ging man hier davon aus, Erwachsene würden besser auf ihre Sachen achten und müssten sie nicht so oft waschen.
Eine halbe Stunde später machte ich einen recht anständigen Eindruck und erinnerte in keiner Weise mehr an einen Erdgeist. Trotz des wenig vertrauenerweckenden Gerumpels der Waschmaschine kam meine Kleidung sauber und fast trocken aus ihr heraus. Ich nahm den Samen in die linke Hand und zog mich an, wobei er mich natürlich störte – aber ich konnte ihn nun einmal nicht aus der Hand geben.
Triff endlich deine Entscheidung, Nik Rimer!
Führe deine Welt in den Schatten oder gib mich frei!
Nik schwieg.
Seufzend strich ich mir die Haare glatt und verließ das Bad.
Das Zimmer, in dem die am schwersten zu erziehenden Kinder des Internats Weißes Meer lebten, hatte mir schon bei meinem ersten Besuch in der Gestalt des Ausbilders Fed gefallen. Dieses ganze mittelalterliche Ambiente, das die vier Jungen so liebevoll aufgebaut hatten: der »Strohteppich« auf dem Fußboden, die Lampen mit den sorgfältig verborgenen Glühbirnen, die gestrickte Gardine vorm Fenster, der Tisch und die Betten aus grobem Holz …
Jetzt saßen alle vier auf einem Bett und warteten auf mich. Fal war von seinem Wachtdienst zurückgekehrt und offenbar von den anderen schon in die Situation eingeweiht worden. Wie sich gezeigt hatte, ließ er sich wirklich durch nichts aus der Ruhe bringen. Als Till und ich vom Kuppelbau in das Gebäude hereingekommen waren, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er hatte zu Till hinübergeschielt, der den Finger an die Lippen gelegt hatte, und dann zur gegenüberliegenden Wand gestarrt …
»Es ist alles in Ordnung«, teilte mir ein blonder Lockenkopf mit. »Wir haben alte Aufzeichnungen der Überwachungsanlagen. Wie wir schlafen … Die laufen jetzt. Falls mal jemand auf den Bildschirm schaut, wird er nichts merken.«
»Danke, Grik, das denke ich auch.«
Ich setzte mich auf den Boden und blickte die Kinder erwartungsvoll an: Na, dann quetscht mich mal aus.
Die Jungen sahen sich an.
»Woher kennen Sie uns denn?«, fragte Grik.
»Wir haben uns bereits kennengelernt, Jungs. Vor einer Woche.«
Verständnislose Blicke.
»Wir haben darüber gesprochen, wie man eine Entscheidung trifft. Und darüber, dass das Schicksal der Welt manchmal von einem einzigen Menschen abhängt …«
»Ausbilder Fed?«, fragte Till plötzlich. »Sind Sie das, Ausbilder?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Grik scharf. »Nein!«
»Ich schon!« Till sprang vom Bett auf, stürzte zu mir, setzte sich dicht neben mich und griff nach meiner Hand. »Damit ihr’s nur wisst!«
Ihm kam es einzig und allein auf die zärtliche Berührung an. Für ihn spielte es keine Rolle, ob ich log oder die Wahrheit sagte, solange er mich nur für einen Ausbilder halten durfte … Mit der Hand, die den Samen nicht hielt, zerzauste ich ihm das Haar. »Ich brauche euern Rat, Jungs«, sagte ich. »Sonst habe ich niemanden, den ich fragen könnte. Und ihr … müsst schließlich hier leben. Das ist eure Welt. Ich habe nicht das Recht …«
»Erzählen Sie erst mal«, sagte Fal. »Das wird bestimmt ganz spannend.«
Auch er rutschte jetzt vom Bett runter und legte sich auf den Fußboden – und zwar so, dass er weder neben mir noch abseits lag. Grik und Laki blieben auf dem Bett sitzen und rückten sogar näher zusammen. Die übliche Verteilung einer Gruppe in einer ungewöhnlichen Situation.
»Unterbrecht mich aber erst einmal nicht«, bat ich. »Es fällt mir so schon schwer genug. Hört euch zunächst alles an, danach könnt ihr mich fragen, wenn ihr etwas nicht verstanden habt.«
Sie nickten alle, sogar die beiden Skeptiker.
»Ich bin ein Mensch. Aber ein Mensch von einem anderen Planeten. Wir sind technisch nicht so weit entwickelt wie ihr, fliegen aber auch ins All …«
Ich berichtete so knapp und sachlich wie möglich. Ich durfte meine Erzählung nicht in einen Vortrag verwandeln, der die ganze Nacht in Anspruch nahm, da es ohnehin genug gab, was ich den Jungen mitteilen musste. Von der Erde, auf der in gewisser Weise bis heute ihr geliebtes Burgenzeitalter herrschte, auch wenn wir von einem Stern zum anderen flogen. Vom Konklave, das Hunderte von Zivilisationen mit unerbittlichen Gesetzen an sich knebelte. Nicht aus Bosheit, natürlich nicht … eher aus der bitteren Notwendigkeit heraus. Davon, wie die Schwachen Rassen nach dem Auftauchen der Geometer in unserem Kosmos Hoffnung geschöpft hatten und ich in der Gestalt des toten Regressors Nik Rimer aufgebrochen war, ihre Welt zu erkunden …
Sie glaubten mir nicht auf Anhieb. Ich sah, wie sich auf ihren Gesichtern Staunen, Begeisterung angesichts meiner Phantasie und schließlich die erschütternde Einsicht, dass all das der Wahrheit entsprach, abwechselten. Vielleicht half mir ihr kindliches Vertrauen. Vielleicht spürten sie mein Unvermögen zu lügen. Irgendwann glitt Laki vom Bett und setzte sich zu uns, am Ende kapitulierte selbst Grik, zudem gleich vollends: Er setzte sich neben mich und umarmte mich. »Wir helfen dir, Regressor Pjotr!«, flüsterte er, problemlos zum Du übergehend. »Ihr werdet zu unseren Freunden! Und dem Konklave bringen wir auch bei, unsere Freunde zu sein!«