»Jetzt nach rechts«, instruierte ich ihn. »An Pasternaks Datscha biegen Sie ab ...«
»Welche ist das?«
»Die da ...«
Der Fahrer legte sich meisterlich in die Kurve. »Pasternak?«, fragte er dann. »Ist das auch einer von uns?«
Ich verschluckte mich und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
»Ach nein, der hieß ja Paterny oder so ...«, überlegte der Fahrer laut. »Nein, jetzt hab ich’s! Das ist doch so ein Schriftsteller, oder?«
»Ja«, erwiderte ich kraftlos. »Ein Schriftsteller. Ein Dichter. Ein ziemlich berühmter ...«
Zufrieden ob seiner Bildung fing der Fahrer an, leise vor sich hinzupfeifen. Der steinerne Nacken des Wachmannes zitterte. »Berühmt zu sein gehört sich nicht«, gab er mit überraschend weicher Stimme von sich.
Sie sind schon seltsam, diese zufälligen Begegnungen. Das Auto hielt vor der Datscha meines Großvaters. Beim Aussteigen versuchte ich, das Gesicht des Wachmannes zu erkennen, was mir jedoch nicht glückte, dazu war es einfach zu dunkel im Wagen.
»Vielen Dank, Kollegen«, verabschiedete ich mich. Der Volvo fuhr leicht heulend davon.
Ich blieb zurück, allein mit dem Haus.
Nein, es entspräche nicht der Wahrheit, wollte ich behaupten, ich würde mich vor meinem Großvater fürchten. Selbst als Kind hatte ich keine Angst vor ihm gekannt. Angst hat man normalerweise vor dem Vater - was ja auch gar nicht verkehrt ist. Nur hatte ich nie erfahren, was eine zärtliche Mutter, was ein strenger Vater ist.
Meine Eltern waren tödlich verunglückt. Ich war damals zwei Jahre alt gewesen. Ein Flugzeugabsturz, mit einer dieser dämlichen Tupolews, einer Tu-154. Diesen Typ hätte man schon in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Verkehr ziehen sollen. Infolgedessen hatte mich mein Großvater erzogen ... falls man das Erziehung nennen durfte.
Ich trippelte vor der Pforte auf und ab. Sie war nicht abgeschlossen, schließlich wurde die ganze Siedlung in Peredelkino hervorragend bewacht.
Gut, es half nichts, ich musste Rede und Antwort stehen.
Ich stieß die Pforte auf und betrat den Garten. Die Fenster der Datscha schimmerten durch die Bäume hindurch, schwach in der Diele im Parterre, heller im ersten Stock, im Zimmer meines Großvaters.
Erst unmittelbar vor dem Haus schoss hinter den Bäumen ein lautloser schwarzer Schatten hervor und stürzte sich auf mich. Ich blieb stehen und ließ mich von Tyrann beschnuppern.
»Na?«, fragte ich. »Erkennst du mich denn nicht?«
Ein kaukasischer Schäferhund ist ein sich seiner Wichtigkeit bewusster Hund. Folglich inspizierte Tyrann erst fünf Sekunden lang meine Hosen, bevor er sich auf dem Weg hinlegte. Er verlangte Aufmerksamkeit, der durchtriebene Kerl. Ich weiß nicht warum, aber in den ganzen vier Jahren seines Hundelebens hatte er es nicht gelernt, mich als Herrchen anzuerkennen. Eher sah er in mir einen Spielgefährten, mitunter auch ein Instrument des Bauchkraulens. Zumindest las ich in diesem Moment Letzteres in seinen Augen.
»O nein, mein Junge, da hast du dich verrechnet.« Ich stieg über den Hund hinweg, holte den Schlüssel heraus und schloss auf. Tyrann gab unter Aufbietung aller Kräfte vor, nicht enttäuscht zu sein und sich aus purem Ruhebedürfnis auf den Weg gelegt zu haben.
Ich trat ins Haus ein und schloss hinter mir wieder sorgfältig ab. Ein Wachschutz ist schön und gut, der Hund im Garten bekam sein Pedigree auch nicht umsonst -aber ein Schloss war nun mal der zuverlässigste Schutz.
»Bist du müde, Petja?«
Wie angewurzelt verharrte ich in der Diele und schielte nach oben, die hölzerne Wendeltreppe hinauf. Die brüchige Greisenstimme kam aus seinem Zimmer. Mein Großvater musste die Tür offen gelassen haben, damit er hörte, wann ich heimkam.
»Nein, Großpapa!«
»Dann komm rauf.«
Mit einem Anflug von Sehnsucht schaute ich auf meine Zimmertür. Könnte ich doch jetzt in mein Bett schlüpfen, das zwar schon ein wenig durchgelegen war und quietschte, mir dadurch jedoch nur umso vertrauter war ... Ich würde eine CD mit Meeresbrandung abspielen ... oder nein, ich würde das Fenster aufreißen und dem Rauschen im Garten lauschen ...
»Pjotr Danilowitsch!«, brüllte mein Großvater.
»Ich komme!« Ich hechtete die Treppe hoch.
Die Stufen waren recht flach, vermutlich damit die altersschwachen Schriftsteller die russische Literatur nicht um ihren Reichtum brachten, indem sie die Treppe runterstürzten. Ich beschrieb einen ganzen Kreis auf der Wendeltreppe, bevor ich den ersten Stock erreichte. Die Tür zum Zimmer meines Großvaters stand offen, von den anderen Räumen, die längst und zuverlässig verschlossen waren, wehten förmlich Dunkelheit und Einsamkeit herüber. Und düster war es hier ... Wie überstand mein Großvater wohl die Zeit ohne mich?
Andrej Valentinowitsch Chrumow, einst von Beruf Psychologe und Publizist, seinerzeit Teilnehmer an den Verhandlungen zwischen der Erde und dem galaktischen Konklave, der Mann, den man den Himmler des Weltraumzeitalters genannt hatte, ein dicker siebzigjähriger Greis, mein Großvater ...
Er saß in einem alten Ledersessel, der früher mal hellbraun gewesen, inzwischen aber bis ins Falbe ausgeblichen war und den Ton der silbergrauen Haare meines Großvaters zeigte. Schweigend sah er mich an. Auf dem Tisch leuchtete der Schirm seines Laptops, aus der Ecke des Raums, die dem klapprigen Bücherregal gehörte, brummte der laufende Fernseher.
»Was gibt’s denn, Großpapa?«, fragte ich leise.
Mein Großvater stemmte sich langsam hoch, kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. Ich überragte ihn um einen Kopf, fühlte mich jetzt aber wieder wie ein kleiner Junge.
»Du Tausendsassa ...«, flüsterte mein Großvater. »Petka ... Bengel ... die haben zunächst durchgegeben, du seist verunglückt ...«
»Wirklich?« Entsetzen packte mich. Wenn ich mir vorstellte, was mein Großvater durchgemacht hatte!
»Es hieß, du habest das Schiff von der Stadt weggelenkt und seist zerschnellt ...«
»Und das hast du geglaubt?«
Mein Großvater trat um die Länge eines ausgestreckten Arms von mir weg. Er blickte mir fest in die Augen. »Ob ich es geglaubt habe? Natürlich. Wäre das nicht typisch für dich gewesen?«
Ich erwiderte kein Wort.
»Eine halbe Stunde lang habe ich auf neue Nachrichten gewartet. Gott und die Welt habe ich angerufen. Dann kam durch, dass das Schiff auf einer Straße notgelandet ist.«
Mein Großvater stieß ein leises, hüstelndes Lachen aus.
»Da habe ich mich wieder beruhigt. Dass du bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, verunglückst, das hätte durchaus stimmen können. Aber bei einer Notlandung? Niemals!«
»Warum das denn nicht?«
»Darum nicht!«, blaffte mein Großvater, der damit wieder in seinen üblichen Ton wechselte. »Haben dich die Ärzte durchgecheckt?«
»Selbstverständlich!«
»Gehirnerschütterung, Quetschungen, Knochenbrüche?«
»Dann wäre ich jetzt nicht hier! Nein.«
Mit einem Nicken schlurfte mein Großvater zum Sessel. Ich nahm auf dem harten Wiener Stuhl in der Zimmerecke Platz. Schon in meiner Kindheit hatte ich gern hier gesessen, um still zu beobachten, wie mein Großvater arbeitete. Ab und an hatte er mir erlaubt, meinen Laptop mit herzubringen, den ich auf den Rand des Tischs stellte, um dort meine Hausaufgaben zu erledigen, während er arbeitete. Wenn er in guter Laune war, verbanden wir gegen Abend unsere Notebooks und spielten ein Strategiespiel ...
»Dann erzähl mal«, forderte mich mein Großvater auf, während er es sich im Sessel bequem machte. »Nein ... warte noch.«
Leicht verlegen wich er meinem Blick aus und entnahm einer Schublade seines Schreibtischs einen gewaltigen Kristallaschenbecher, Streichhölzer, eine Pfeife und einen Tabakbeutel. Schon vorhin, beim Betreten des Raums, war mir aufgefallen, dass mein Großvater heute Abend geraucht hatte. Ich hatte ihm jedoch keinen Vorwurf gemacht.