Heute durfte ich vermutlich noch zu Hause bleiben. Die Fluggesellschaft zeigte sich in solchen Situation durchaus großzügig. Morgen würde allerdings die Untersuchung bei Transaero und Roskosmos eingeleitet, dann müsste ich Interviews geben und den Kollegen meine wundersame Rettung erklären ...
Entzückende Aussichten ...
Ich ging aufs Klo und wusch mich, begab mich dann nach oben, aber im Zimmer meines Großvaters herrschte Stille. Daraufhin machte ich mir in der Küche ein paar belegte Brote zurecht, schnappte mir den Teekessel und zog mich in mein Zimmer zurück. Auf dem Tisch lag ein Buch meines Großvaters, Ein Platz unter den Sternen. Zunächst beachtete ich es nicht weiter, bis mir jedoch auffiel, dass das Titelbild etwas anders war. Außerdem fanden sich darin mehr Namen galaktischer Rassen, eingetragen in blutroter Schrift auf schwarzem »kosmischen« Untergrund. Also eine Neuauflage, ergänzt und überarbeitet, ganz wie es sich gehörte.
Ich setzte mich ans Fenster, biss in ein Brot und blätterte das Buch durch. Im Wesentlichen schien alles wie gehabt. Die drei »Postulate Chrumows«, hämischer Spott an die Adresse amerikanischer Astrophysiker und des begeisterten Kontaktaufnehmers Mulder, kurze und unbarmherzig böse Charakteristiken aller den Menschen bekannten Rassen im Kosmos. Ich schlug die Artikel zu den Zählern und den Alari auf.
Seltsam, aber über diese beiden Rassen hatte mein Großvater nahezu hasserfüllt geschrieben! Wollte ich dem Text glauben, handelte es sich bei eben diesen zwei Rassen um unsere Erzfeinde, genauer gesagt: um unsere erbittertsten Konkurrenten ...
Ich schlug das Vorwort auf und las:
»Die galaktische Familie - das ist nicht nur ein Allgemeinplatz. Wir fassen die neun Starken Rassen des Kosmos, die nun bereits seit rund tausend Jahren zusammenleben, völlig zu Recht als Familie auf. Es stellt sich lediglich die Frage, welche Rolle innerhalb dieser Familie die jungen und Schwachen Rassen einnehmen, die Alari, die Menschheit, die Zähler, die Cualcua, die Blinker, die Jentsh, die Unaussprechlichen und die Stäubler. Diese Liste ließe sich verlängern, übersteigt die Zahl der Schwachen Rassen die der Starken doch um ein Vielfaches. Die Unterschiede zwischen den Starken und den Schwachen erschließen sich freilich nicht auf den ersten Blick. Die Schiffe der Alari sind weitaus stärker als die Flotte der Daenlo. Die Zähler sind fraglos intelligentere Wesen als die Hyxoiden. Alle Rassen indes, die wir zu den Schwachen zählen, weisen ein unauslöschliches Stigma auf: ihre enge Spezialisierung.
Welche Rolle spielen nun wir in jener galaktischen Familie? Sind wir Kinder oder Stiefkinder?
Betrachten wir die Gesellschaft der Menschen einmal näher, ließe sich folgende Analogie festhalten: Eltern haben das Recht, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es für aussichtsreich erachten. Wir helfen einem Jungen mit absolutem Gehör, Musiker zu werden, während ein Mädchen mit außerordentlicher Gelenkigkeit auf eine Karriere als Ballerina hoffen darf. Wir haben das Recht dazu, denn es sind unsere Kinder, und für gewöhnlich erkennen wir besser, welcher Weg ihnen in ihrem Leben größeren Erfolg beschert.
Die Starken Rassen sind indes nicht unsere Eltern. Und die Rolle der kosmischen Fuhrleute, die uns vor zwei Jahrzehnten aufgezwungen worden ist, verkörpert nicht den Traum der Menschheit.
Wie urteilen wir über eine Menschenfamilie, die hilflose Kinder aufnimmt, um sie zu erziehen, sich dabei jedoch ausschließlich von ihren eigenen Bedürfnissen leiten lässt? Wie stehen wir zu Menschen, die einen physisch kräftigen Jungen zu einem Holzfäller heranziehen, einen wendigen und schlanken zum Schornsteinfeger -ohne ihm dabei eine Chance zu lassen, seinen eigenen Weg im Leben zu wählen? Flexibilität und Universalität bildeten stets die Grundlage der menschlichen Zivilisation, und dies nicht allein auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf individueller. Nun jedoch finden wir uns ins Prokrustesbett eingepasst. Noch leben Menschen, welche sich diese oktroyierte Zukunft wahrlich nicht erträumt haben. Doch binnen ein, zwei Generationen schon wird der Prozess irreversibel sein. Dann wird in der Psyche der Menschen auf lange Sicht - wenn nicht gar für immer - die ihnen von den Starken Rassen vorgeschriebene Rolle fest verankert sein ...«
Ich schlug das Buch zu und legte es beiseite. Ich lauschte. Richtig! Im ersten Stock waren Geräusche zu hören. Mein Großvater war aufgewacht.
Er liebte es, mit Vergleichen zu arbeiten. Dabei hatte er mir immer gepredigt: »Traue Vergleichen nicht! Traue den verlogenen Analogien nicht! Sie geben dir einzig über die Persönlichkeit des Autors Auskunft, niemals jedoch über den Kern der Sache!« Er selbst mied sie allerdings nicht. Zumindest nicht in populären Werken wie dem Platz unter den Sternen.
»Petja!«, erschallte es von oben. »Bist du schon wach?«
Als ich ins Zimmer meines Großvaters hinaufging, beendete er gerade ein Telefonat. »Ja, Maschenka ... Vielen Dank, mein Schatz. Johanniskraut? Natürlich, das bring mit! Niemand kennt sich mit Kräutern so aus wie du ... Vergiss auch Oregano nicht. Und Schierling ...«
Mein Großvater äugte leicht verärgert zu mir rüber, fast als hätte er nicht damit gerechnet, mich so schnell, noch vor dem Ende seines Gesprächs, zu sehen. Er nickte in Richtung Stuhl. »Immortellen hast du keine gesammelt?«, fuhr er fort. »Schade ... Aber doch wenigstens Passionsblumen? Mein Augenstern ... Was täte ich bloß ohne dich? Die Passionsblumen werden sich bestimmt gut machen. Hast du schon alles eingepackt? Dann warte ich auf dich. Und ich stelle dir endlich Petja vor. Er sitzt gerade neben mir. Also, bis später.«
Was für ein seltsames Gespräch. Mein Großvater sprach mit dieser mir unbekannten Mascha wie mit seiner Lieblingsenkelin. Nur dass ich keine Schwestern hatte, nicht mal Cousinen.
Außerdem hatte er sich nie mit Heilkräutern beschäftigt, desgleichen machte er sich nichts aus Blumen. Folglich musste es ein verschlüsseltes Gespräch gewesen sein, voller Codewörter, die nur die beiden verstanden. Gerade der letzte Hinweis, ich halte mich im Zimmer auf, hatte mich stutzig gemacht. Als wollte mein Großvater Mascha zu verstehen geben: »Ich kann nicht frei sprechen ...«
Nachdem mein Großvater aufgelegt hatte, schwieg er eine gute Minute. »Das war eine Doktorandin aus dem Zentrum in Petersburg«, stellte er dann klar. »Ein sehr begabtes Mädchen. Ja, ich scheue mich nicht, von einem genialen Mädchen zu sprechen ... in ihrem Bereich, natürlich.«
»In der Pflanzenheilkunde?«, fragte ich scheinheilig.
»So könnte man es auch bezeichnen.« Mein Großvater seufzte. »Heute Abend müssen wir ein ernstes Gespräch führen, Petja. Ein sehr ernstes. Mascha kommt am Nachmittag hierher ... Ihr solltet euch schon lange kennenlernen.«
Mein Gott! Hatte mein Großvater etwa die Absicht, mich zu verkuppeln?
»Leider geht es dabei nicht darum, euch beide unter die Haube zu bringen ...« Wie üblich hatte mein Großvater den Lauf meiner Gedanken erraten. »Hättest du Zeit, in die Stadt zu fahren, Petja?«
»Klar.«
»Kauf ein paar Lebensmittel. Etwas Gutes. Und besorge auch eine Flasche anständigen Sekt. Dann noch Bailey’s und Advokaat. Ein halbes Pfund Kaviar. Drei Suchr Schinken, aber keinen fetten. Und einen Betten mageres Kalbfleisch, falls es welches gibt ...«
Ging das wieder los. Mein Großvater liebte Spaße dieser Art. Zu gern pumpte er mir unendlich lange Listen ins Hirn, wobei er obendrein Gewichte, Größen und Mengen in verschiedenen Systemen der Erde und der Galaxis angab. Als Gedächtnisübung ... Nie würde ich vergessen, wie mich die ganze Klasse ausgelacht hatte, als ich, verwirrt durch die Einkäufe, die ich nach der Schule zu erledigen hatte, meine Klassenarbeit im Zahlensystem der Hyxoiden löste ...