Mein Großvater hatte gut daran getan, mir diese Zeitung nie zu zeigen. Ich wandte den Blick ab. Mit trockener Kehle schluckte ich einen bitteren Klumpen aus Schmerz und Schuld hinunter. Ich faltete den Artikel zusammen und steckte ihn zusammen mit dem Photo in meine Tasche.
Die Alben brannten nur schlecht. Was hatte ich anderes erwartet? Sie waren halt aus Plastik. Ich musste in die Garage gehen und Benzin über die Dinger schütten. Ich hockte mich neben das Feuer und wärmte mir die klammen Hände, aber der Rauch biss mich zu sehr.
Die Erinnerung - die brennt immer schlecht.
Braucht man lange fürs Packen, wenn man für immer fortgeht?
Frische Unterwäsche, ein paar Hemden ... im Flugzeug würde ich sowieso meine Uniform tragen. Eine CD mit allem möglichen Quatsch, Gedichten aus meiner Teenagerzeit, einem angefangenen und nie beendeten Roman, Briefen und meinen Lieblingsspielen. Ein paar Scheiben mit Musik. Es wäre schade, wenn bei der Hausdurchsuchung »rein zufällig« meine Sammlung verloren ginge. Allerdings bestand sie überwiegend aus Klassik, nicht aus Pop, vielleicht würde sie den Besuch überleben ...
Wie immer passte alles in meinen Aktenkoffer. Wenn man für einen Tag oder für immer fortgeht, verliert Besitz jeden Sinn. Das ist keine Reise an einen Ferienort.
Ich ging nach oben und verabschiedete mich von meinem Großvater. Falls keine Probleme auftraten, würden wir uns morgen wiedersehen. Mein Großvater durchforstete noch immer seinen Kram. Ich wollte ihm schon sagen, dass ich diesen Zeitungsartikel entdeckt hatte, überlegte es mir dann aber. Auch ihn würde die Erinnerung schmerzen.
Unten erwartete mich Mascha, diesmal ohne Pistole.
»Ich wollte mich entschuldigen«, sagte sie.
Ich stand ziemlich dämlich da, mitten auf der Treppe und sie damit überragend. Es wäre jedoch grob unhöflich gewesen, die Frau einfach zu ignorieren.
»Schon vergessen«, sagte ich beiläufig. »Außerdem muss ich mich genauso entschuldigen, schließlich bin ich ausgerastet.«
»Ich mache mir einfach Sorgen um den Erfolg unserer Operation«, erklärte Mascha. »Es wäre doch blöd, wenn alles wegen einer Kleinigkeit platzen würde ... also, entschuldige.«
»Du verstehst dich sehr gut mit meinem Großvater. Kennt ihr euch schon lange?«
Sie zögerte. »In gewisser Weise schon«, antwortete sie dann. »Ich habe unter der Ägide des Chrumow-Fonds studiert. Insofern hat dein Großvater meine Ausbildung finanziert ... also, er hat einfach alles für mich bezahlt. Aber ich würde ihn auch sonst mögen!«
»Weiß ich doch!« Ich berührte kurz ihre Schulter. Diese kameradschaftliche Geste würde ihr bestimmt gefallen, glaubte ich wenigstens. »Wird schon alles schiefgehen. Wir sehen uns in Swobodny.«
Mascha nickte.
»Kümmer dich um meinen Großvater«, bat ich sie und verließ das Haus.
Der Wagen war noch nicht da, doch ich hatte keine Lust, wieder ins Haus zu gehen. Vielleicht einfach, weil Mascha und ich uns nichts mehr zu sagen hatten. Jedenfalls vorerst nicht. Ich durchquerte den Garten, hielt dabei automatisch nach Tyrann Ausschau und verließ das Gelände durch die Pforte.
Warum hatte ich bloß keine schlechte Angewohnheit? Es wäre so viel amüsanter, die Zeit totzuschlagen, indem ich eine Zigarette rauchen oder Bier direkt aus der Dose trinken würde.
Zehn Minuten wartete ich auf das Auto. Als ich in der Ferne bereits ein Motorengeräusch vernahm, bemerkte ich eine kleine Figur, die auf mich zugerannt kam.
»Onkel Petja!«
Aljoschka hielt keuchend vor mir an. Offenbar war er so schnell gelaufen, wie er nur konnte.
»Was ist passiert?«, fragte ich, unwillkürlich alarmiert.
»Nichts ... Ich hatte Angst, dass ich Sie verpasse. Ist das Ihr Auto?«
Ich sah zu dem näher kommenden Auto rüber. »Ja.«
»Ich ... ich habe ein Geschenk für Sie.«
Der Junge kramte irgendwie linkisch in seiner Hosentasche und reichte mir mit gesenktem Blick ein längliches Päckchen.
»Bitte ... Also, dann hau ich mal wieder ab.«
»Warte«, bat ich. Ich wickelte das Papier auf. Aljoschka wurde immer verlegener.
Ein Messer.
Und was für eins!
Kein chinesisches Imitat. Dazu war der Stahl zu gut, der Griff zu abgenutzt. Ein Messer der russischen Landetruppen. Ein solches Stück gelangt nie auf den freien Markt.
»Was soll das, Junge?«, fragte ich leise.
»Sie mögen Stichwaffen doch. Und ... mir ... gefallen sie nicht so gut.«
»Du kriegst Ärger mit deinen Eltern.« Ich hielt ihm das Messer wieder hin. »Hier.«
»Sie wissen nichts davon. Das ist mein Messer, ich habe es bei den anderen Jungen eingetauscht. Schon vor langer Zeit. Behalten Sie es bitte.«
Was für ein seltsames Geschenk. Von dem Messer ging etwas Unfassbares aus ... eine befremdliche, ungute Aura. So liegt nur eine Waffe in der Hand, die bereits über Leben und Tod entschieden hat.
Ich durfte dem Jungen das Messer nicht zurückgeben. Behalten durfte ich es aber auch nicht. Ich müsste es der Miliz aushändigen. Andererseits war es ein Geschenk ...
Ich bin ja vielleicht ein abgebrühter Terrorist! Da plane ich, ein Raumschiff zu kapern - und habe Schiss, eine nicht registrierte Waffe bei mir zu haben!
»Vielen Dank«, sagte ich, während ich das Messer in die Tasche steckte. »Wenn ich wieder da bin, reden wir noch einmal darüber, ja? Und tausche solche Sachen nicht mehr ein.«
»Hab ich sowieso nicht vor.«
»Vielen Dank«, wiederholte ich noch einmal. Dann verwuschelte ich dem Jungen das Haar und stiefelte zum Auto. Ob der Fahrer und der Bodyguard bemerkt hatten, was ich eingesteckt hatte?
Was sollte sie das allerdings angehen? Immerhin war ich Offizier. Ich könnte mit einer Pistole die Straße entlangspazieren, was bedeutete da schon ein Stück geschliffener Stahl? In meinem Dienstausweis steht ausdrücklich drin: »Hat das Recht, jede Waffe zu tragen und einzusetzen.«
»Guten Flug!«, rief mir Aljoschka nach.
Ich nahm hinten Platz, der Fahrer fuhr sofort los. »Danilow hat gebeten, Sie früher hinzubringen ...«, erklärte er.
Anscheinend ist es mein Schicksal, ständig auf den letzten Drücker zu meinen Flügen zu kommen. Ich drehte mich noch einmal zurück und betrachtete die Datscha und den Jungen an der Pforte.
Lass nichts zurück!
Nur wie willst du dann verstehen, wohin du gehen musst?
Scheremetjewo war wie immer, laut und chaotisch. Der Bodyguard brachte mich zum Personaleingang des Transaero-Trakts. Erst nachdem er mich abgeliefert hatte, sah er seine Pflicht als erfüllt an.
»Guten Start!«, wünschte er mir.
Viel trennte ihn nicht von Aljoschka.
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich. Sobald ich am Eingang meine Papiere vorzeigte, ließ man mich ohne Probleme durch.
In dem kleinen Vorraum war es laut und verraucht. Das Zentrum der Gesellschaft bildete Danilow. Er flegelte sich auf einem kleinen Sofa, um ihn herum drängten sich die Frauen vom Bodenpersonal, bereits in Mänteln und Jacken - sie hatten bestimmt in der letzten Schicht gearbeitet, waren aber jetzt noch geblieben, um den Geschichtchen des allgemeinen Lieblings zu lauschen -, dazu ein paar Flieger, die ich nicht kannte. Fast alle qualmten, die Piloten und Danilow tranken Bier.
»Und dann wabert so ein Stäubler auf mich zu«, fuhr Danilow mit seiner Erzählung fort, »und fängt an, sich um meine Beine zu winden. Ich habe mich allen Ernstes gefragt, wie ich zu dieser Ehre kam. Dann will ich ihn mit dem Schuh wegkicken ...«
Diejenigen, die eine mehr oder wenige zutreffende Vorstellung von einem Stäubler hatten, lachten.
»Aber der ringelt sich einfach um meinen Fuß! Das war’s dann wohl, denke ich mir, mein Bein kann ich vergessen ...«