Woran ich übrigens nicht gezweifelt hatte. Früher hatte ich gewusst, dass mein Großvater sein Ziel immer erreicht. Heute wusste ich, dass Andrej Valentinowitsch sein Ziel immer erreicht.
Ein geringfügiger Unterschied.
»Ich überprüfe die Fracht ...«, teilte Danilow mit, nachdem er sich von seinem Sitz abgeschnallt hatte. Was war nur mit ihm los? Machte er sich wirklich solche Sorgen um die alten Büsten? »Wir überprüfen sie ... Mascha, Karel, folgt mir!«
»Aber Andrej Valentinowitsch ...«, protestierte Mascha.
»Pjotr wird sich um seinen Großvater kümmern!«, fiel Danilow ihr ins Wort. »Halt dich an mir fest!«
Er sprang durch die Kabine und packte Mascha um die Taille. Die schlang gehorsam die Arme um den Oberst. Zu zweit arbeiteten sie sich zur Schleusenkammer vor. Karel beäugte mich kurz, dann sprang er den beiden hinterher.
»Er ist eben doch ein Mann mit Taktgefühl ...«, flüsterte mein Ex-Opa, sobald wir allein waren. »Geschlagen, gebeutelt, vom Leben geschubst und getreten ... aber mit Taktgefühl.«
Schweigend half ich ihm, die Gurte zu lösen. Der Alte stieg unbeholfen überm Sitz in die Luft auf und krallte sich mit einer Hand an der hohen Lehne fest. Er drehte sich um und betrachtete voller Interesse die Sterne in den Fenstern. Ja, sie sind schön, die Sterne, so aus der Ferne betrachtet ...
»Wie hast du es herausgefunden?«, wollte Chrumow wissen.
»In dem Photoalbum steckte unter einer der Aufnahmen ein Zeitungsartikel. In dem hieß es, der bekannte Politologe und Publizist Andrej Chrumow habe bei dem Unglück seine gesamte Familie verloren. Seinen Sohn, seine Schwiegertochter und seinen Enkel.«
»Verdammt ...« Chrumow rieb sich übers Gesicht. »Ja ... das Gedächtnis ... Anfangs verlangt es nach Symbolen ... nach Texten und Bildern ... aber später stolperst du genau darüber ...«
»Ich bin nicht dein Enkel.«
»Ja! Ich habe dich adoptiert! An Enkels Statt angenommen! Alle Papiere weisen dich als meinen Enkel aus! Was also wirfst du mir vor?«
»Andrej Valentinowitsch ...«
Er zuckte, als hätte ich ihm eins mit der Peitsche übergezogen, als ich ihn mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
»Es geht gar nicht darum, dass du meinen Vater nicht gezeugt hast. Und schon gar nicht darum, dass du mich aufgezogen hast. Dafür danke ich dir. Was ich wissen will, ist, wozu du mich brauchst. Wozu?«
Der Alte fiel in sich zusammen und senkte den Blick.
»In deinem Buch, im Vorwort ... Da gibt es einen Satz über Menschen, die ein Kind adoptieren und aufziehen, nicht weil sie es lieben, sondern weil sie sich in der Zukunft Vorteile von ihm versprechen. Du hast mir immer beigebracht: Assoziationen sagen ausschließlich etwas über den Autor aus. Über mehr nicht.«
»Ein Arzt kann sich nur schlecht selbst heilen ...«, flüsterte der alte Mann.
»Wozu brauchst du mich?«
»Damit in dem Moment, da ich einen Verbündeten brauche, einen starken, klugen und treuen Mann, tatsächlich einer da ist.«
Immerhin war er ehrlich.
»Ich belüge dich nicht. Ich werde dich nie wieder anlügen. Also frag, was du wissen willst.«
O nein, Andrej Chrumow hatte die Lorbeeren, eine Gefahr für Regierungen zu sein, nicht grundlos fast ein halbes Jahrhundert lang getragen. Er hatte sich vorbereitet und nahm den Kampf auf. Nur dass diesmal sein Gegner ich war.
Dann zeig, was du kannst, alter Mann!
»Gibt es Tests, mit denen das intellektuelle Potenzial eines zweijährigen Kindes ermittelt werden kann?«
»Kaum. Ich musste selbst etwas erarbeiten.« Andrej Chrumow lächelte bitter. »Ja, du liegst richtig. Ich habe dich nicht einfach aus dem Waisenhaus mitgenommen. Ich habe dich ausgewählt. Wie einen Welpen. Ich wollte einen gesunden und klugen Jungen. Ich habe Tomographie, ein Kardiogramm und Analysen eingesetzt. Tests. Ich habe unter anderthalbtausend Jungen den vielversprechendsten ausgewählt.«
»Du bist ein Schuft, Andrej Valentinowitsch.«
»Ja. Ich bin ein Schuft. Aber genau deshalb habe ich dich zu einem Menschen erzogen. Ich habe den Diamanten geschliffen. Allein hättest du deinen Weg nie gemacht, Pjotr. Du wärst ein Arbeiter geworden. Oder ein Bauer. So anständig, wie du bist, hättest du es nicht mal zum Banditen gebracht! Heute würdest du literweise billigen Wodka saufen oder Gras rauchen. Du hättest deine Intelligenz zu Grabe getragen, dein Gedächtnis, deine Güte, tropfenweise den Menschen aus dir herausgepresst. Und die Erde würde auf dem Weg vorangehen, den die Aliens für sie abgesteckt haben!«
»Dann wäre es aber wenigstens mein Weg gewesen, Chrumow! Was du da sagst ... die Aliens glauben doch auch, es sei ihr gutes Recht, für uns zu entscheiden! Auch sie schleifen bloß den Diamanten! Indem sie es den Menschen verbieten, ihre Kräfte für unnütze Dinge zu vergeuden!«
»Wir sind beide Menschen.«
»Aber was heißt das? Du hättest mich nicht anlügen müssen! Ich hätte nicht aufgehört, dich zu lieben, wenn du mir die Wahrheit gesagt hättest! Du wärest mein Großvater geblieben! Begreifst du das denn nicht? Ich wäre Kosmonaut geworden, wenn du mir erklärt hättest, warum das wichtig ist! Du hättest mich so oder so zu was auch immer erziehen können! Zu einem Kämpfer gegen die Aliens, einem Terroristen oder einem Mörder. Was auch immer dir in den Kram gepasst hätte!«
Chrumow erwiderte kein Wort.
Ich wandte mich ab. Tränen stiegen in mir auf. Sie funkelten wie kleine Kristallkugeln, rissen sich von den Wimpern los, hingen mir vor den Augen und brachen das giftige chemische Licht. Hellblaue Tränen ...
»Ich habe dich geliebt, Petja«, sagte Chrumow. »Glaubst du mir das?«
»Du hast mich geliebt? Wie ein perfektes Werkzeug, an das sich die Hände gewöhnt haben?«
»Nein. Wie einen Enkel. Ich habe meinen Sohn nicht so geliebt, wie ich dich geliebt habe.«
Darauf schwieg ich. Sanft erglommen die Lampen der Notbeleuchtung.
Ich wollte jetzt kein Licht!
»Es ist sehr einfach, sich für die Gemeinheit zu entscheiden«, sagte Chrumow leise. »Vor allem wenn du selbst zugibst, dass etwas gemein ist. Zu entscheiden, dass du einen Erben brauchst. Jemanden, der deine Ideen fortführt. Du investierst etwas Geld, um jemanden zu bestechen ... und ich war nie ein armer Mann, das weißt du. Du heuerst Ärzte an, die unter tausendfünfhundert Jungen einen auswählen. Die Behörden wussten Bescheid ... aber ihnen war es egal. Ein alter, streitlustiger Populist, der den Verstand verloren hat und sich einen neuen Enkel aussucht ... Ja, ich wollte einen Verbündeten finden. Einen Verbündeten, mehr nicht! Einen jungen Mann, der mir alles verdankt! Aber dann wurdest du mir zum Sohn, zum Enkel, zu allem ... Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich habe mich gescheut, das zuzugeben. Es ist sehr schwierig, sich zur Offenheit durchzuringen ... vor allem gegenüber jemandem, den du liebst. Was spielt es denn letzten Endes für eine Rolle? Was für eine? Ich hätte es dir so früh wie möglich sagen sollen. Mit zehn, zwölf oder fünfzehn Jahren. Es hätte nichts geändert. Sogar heute kann ich dir genau sagen ... wie du in dem einen oder anderen Alter reagiert hättest. Aber ich brachte es nicht fertig. Mir fehlte der Mut.«
»Du lügst«, flüsterte ich.
»Nein, Petja. Ich habe keinen Beweis, um dich zu überzeugen, dass ich nicht lüge. Gar keinen. Ich bin dir wirklich fremd. Wir sind keine Blutsverwandten. Aber die Liebe ... die bemisst du nicht mit irgendwelchen Geräten. Der kannst du kein Zertifikat und Siegel beilegen.«
»Aber du liebst mich nur, damit ich die Erde ...«
»Ja zur Hölle mit ihr, mit dieser Erde!«, schrie mein Großvater mit dünner Stimme. »Soll sie doch zu Staub zerfallen! Im Feuer verbrennen! Wenn ich gewusst hätte, es damals gewusst hätte ... wenn mir klar gewesen wäre ...«
Ich zitterte, krallte mich am Sitz fest, riss mich dann los und beugte mich zu meinem Großvater vor. Er krümmte sich, bedeckte das Gesicht mit den Händen, aber die trotzigen Tränen, die kläglichen Tränen eines alten Mannes, rannen durch seine Finger und spritzten funkelnd durch die Kabine. Ich setzte ihn in den Sitz und half ihm, die Gurte anzulegen. Ich bettete meinen Kopf an seine Brust, genau wie in meiner Kindheit, als ich mich auf seinem Schoß vor allen Kränkungen, vor jedem Kummer verstecken konnte.