Ich brauchte Hilfe. Ohne Hilfe wäre ich verloren.
Aber würden sie dieses Risiko eingehen?
Sie verstummten. Der Mann trat an mich heran. Schweigend zog er seine Schuhe aus und reichte sie mir. Dann zog er seine Hose aus ...
Freunde ...
Während ich mich anzog, knüpfte er ein längliches Paket von seinem Gürtel. Ich nahm auch das an mich. Es enthielt ein langes Messer.
Freunde.
Die Hosen waren mir etwas zu eng, und mit dem Verschluss kam ich nicht zurecht. Der Mann half mir, mich anzuziehen. Jetzt konnte man mich für ihn halten. Darauf hoffte ich jedenfalls.
»Ich danke euch«, sagte ich. Selbst wenn sie meine Worte nicht verstanden, würden sie doch den Ton erfassen. »Danke.«
Schließlich gab mir der Mann noch eine Pistole. Eine seltsame Konstruktion, ein dicker Griff, ein breites Bodenstück, ein kurzer Lauf, der in eine Halbkugel von rubinroter Farbe mündete. Der Mann entsicherte sie und legte sie mir mit größter Vorsicht in die Hand. Er zeigte auf den Abzug.
»Ihr werdet Probleme bekommen«, bemerkte ich.
In der Zwischenzeit hatte der Alte aus einer prall gefüllten Tasche ein Blatt Papier herausgeholt und einen komischen, primitiven Stift. Anscheinend handelte es sich dabei um ein Stück Graphit, das in eine Holzummantelung eingelassen war. Er zeichnete eine Skizze. Eine einfache und klar verständliche Skizze.
Ein Kreis - das war meine Zelle. Die Linien, die von ihr wegführten - das waren die Tunnel zum Zimmer der Wache und in diesen Raum. Eine verzweigte Linie - das war der weitere Weg.
Wenn der Maßstab stimmte, war es nicht sehr weit bis zu einem großen Raum. Und anscheinend musste ich dorthin.
»Ich habe nichts, was ich euch zum Dank geben könnte«, sagte ich. »Aber wenn ich hier rauskomme ...«
Der Alte gab mir das Blatt und küsste mich auf die Stirn. Fast als segne er mich.
»Die Waffe ist nicht nötig«, meinte ich. »Die Alari würden wissen, woher sie kommt.«
Offenbar hatten die drei darüber auch schon nachgedacht. Der Mann fasste mich an der Hand und führte sie rasch an sein Gesicht. Fragend sah er mich an.
»Ich will das nicht«, sagte ich. »Ich habe dich verstanden, aber ich will das nicht!«
Sie warteten. Schließlich holte ich aus und schlug mit aller Kraft zu. Der Mann schwankte und presste beide Hände gegen das Gesicht.
Ob die Alari nun glauben würden, ich hätte ihm die Waffe gewaltsam abgenommen?
»Ich danke euch«, flüsterte ich. »Danke. Wir werden Freunde werden.«
Die ersten drei Wendungen des Tunnels brachte ich ohne Probleme hinter mich. Dann erweiterte sich der Tunnel und mündete in einen dunklen Saal. Ich verlangsamte den Schritt.
Es war sehr leise. Eine trügerische Stille. Eine nichtmenschliche Stille.
Ich hob die Waffe, die ich geschenkt bekommen hatte. Ich hätte sie gern zunächst ausprobiert, wusste aber nicht, wie viel Munition sie überhaupt enthielt. Immerhin hatte ich ja noch das Messer, die Schnur und den Nachttopf. Ein reiches Arsenal ...
Der Saal war rhombisch und kaum beleuchtet, nur hier und da funkelten in den Wänden transparente Glaskörper. Außerdem wimmelte es in ihm von Alari. Nachtschwarze und fast weiße Wesen, die auf dem Boden lagen, vor einer Erhebung von sonderbarer Form. Gerade Linien akzeptieren diese Wesen anscheinend nicht. Die Erhebung erinnerte vage an eine Tribüne, aber auf ihr befand sich niemand.
Was taten sie?
Die letzten Minuten hatten mich mit unzähligen neuen Begriffen bereichert, so dass ich etliche Hypothesen formulieren konnte: Gebet. Erholung. Arbeit.
Doch was spielte es schon für eine Rolle? Ich musste den Saal durchqueren, was auch immer in ihm vor sich ging.
Die geschenkte Pistole würde wohl kaum über einen großen Energievorrat verfügen. Außerdem würde Alarm ausgelöst, sobald ich den ersten Schuss abgab. Ich nahm die Waffe in die linke Hand, mit der rechten packte ich den Metalltopf fester. Ein Ende der Schnur knotete ich an seinen Henkel, das andere an mein Handgelenk. Schwer seufzend betrat ich den Saal.
Meine ganze Hoffnung gründete darauf, dass für die Alari alle Menschen gleich aussahen. Ich trug die Sachen des Experten, der kein Gefangener war. Vielleicht würde ich ja durchkommen.
Die ersten zehn Schritt ging ich völlig ruhig. Ich sprang sogar über einen Alari, der mir im Weg lag.
Dann fingen sie an, sich zu rühren und sich in meine Richtung zu drehen. Drei Dutzend spitzer Gesichter glotzten mich an. Eins ließ sich vom andern nicht unterscheiden, nur ihre Farbe variierte, von Schwarz bis Weiß. Mich konnten sie bestimmt genauso wenig von dem Experten unterscheiden. Sie konnten es einfach nicht! Ich trug die Kleidung des Mannes. Ich ging langsam meinen Weg ... Ich brachte den Nachttopf raus ...
Durch die Reihen der Alari rann ein Nuscheln. Es war leise - was mich nur umso mehr erschreckte.
Vielleicht durfte der Experte gar nicht hier sein. Vielleicht wunderte sie die Pistole oder der Topf. Oder sie konnten unsere Gesichter bestens unterscheiden.
Ein kleiner schwarzer Alari sprang auf mich zu. Ich hatte damit gerechnet und reagierte entsprechend - ich richtete die Hand mit der Pistole auf ihn und betätigte den Abzug.
Ein feiner weißer Strahl flammte auf. Eine Laserwaffe ... Der Alari, der im Sprung von der Lichtnadel aufgespießt wurde, kreischte los. Sein Brustfell fing Feuer, er krampfte sich zusammen, streifte kurz meine Hand und fiel zu Boden.
Die Alari schrien und sprangen wild umher. Als ich den Abzug noch einmal drückte, vibrierte die Pistole nur, spuckte behäbig einen kleinen Keramikzylinder aus und drehte in ihrem Innern etwas herum.
Was war das schon wieder? Eine Handfeuerwaffe, die ein paar Sekunden brauchte, um nachzuladen?!
Ich schleuderte die Pistole zusammen mit der Hoffnung, die Reihen der Nicht-Freunde problemlos zu passieren, fort. Dann zog ich das Messer und stürmte vorwärts.
Die Alari fielen geschlossen über mich her.
Im Zweikampf waren sie mir natürlich weit unterlegen. Sie zeigten sich verzweifelt kühn und schnell, waren jedoch viel schwächer als ich. Ich rannte, teilte mit dem Nachttopf Schläge aus, bis deren dumpfes Echo zu einem gleichmäßigen Heulen verschmolz. Wenn das Metallgefäß schwerer gewesen wäre, wären die Alari nicht mit dem Leben davongekommen. Aber so flitzten die halb benommenen Wesen nur zur Seite, schüttelten die Köpfe, um wieder zu sich zu kommen, und warfen sich erneut auf mich.
Ein großer, hellgrauer Alari sprang mich an, grub in Brusthöhe seine Zähne in meine Jacke und hämmerte mit seinen langen Vorderpfoten auf mein Gesicht ein. Meine Augen traf er zum Glück nicht, aus meinen Wangen strömte jedoch Blut. Ich stieß ihm mit dem Messer in die Seite, worauf der Alari von mir abfiel, unversehens seines Kampfeseifers beraubt. Die anderen spornte das nur an. Sie hingen schon zum dritten Mal an mir. Mich rettete, dass ihre Attacken immer gleich ausfielen - sich in Brusthöhe verbeißen und mit den Pfoten auf meinen Hals oder mein Gesicht einhämmern. Die Jacke schützte meinen Körper, aber mein Gesicht verwandelte sich in eine einzige Wunde, und Blut lief mir in die Augen.
»Euch zeig ich’s!«, schrie ich, während ich mit dem Topf auf die zotteligen Köpfe eindrosch. Ich kannte ihre Schwachstelle bereits, nämlich die schwarze Nasenspitze. Nach einem Schlag darauf wichen sie viel schneller zurück und wagten sich anschließend nicht mehr an mich heran. »Auseinander!«
Nein, sie verstanden mich nicht. Aber ihr Selbsterhaltungsinstinkt funktionierte, so dass sie mir den Weg freigaben. Zu viele Alari wimmerten schon vor Schmerz in den Ecken, zu viele krümmten sich bereits in Lachen dunklen Bluts auf dem Boden.