Das Auto verringerte das Tempo.
»Wir sind da«, verkündete Tag zufrieden.
Das kleine Restaurant lag unter freiem Himmel. Etwas abseits stand ein kleineres, kuppelförmiges Gebäude, aber anscheinend beherbergte es nur die Küche, nicht die Gäste. Zwei Dutzend Tische waren in schnurgeraden Reihen um ein quadratisches Becken mit einem sprudelnden Springbrunnen aufgestellt. Das Wasser im Becken leuchtete schwach, nicht von Scheinwerfen angestrahlt, sondern als schimmere es von selbst in zartem türkisfarbenen Licht.
»Da drüben ist etwas frei ...«
Ich trottete brav hinter Tag her und versuchte, nicht allzu offen alles um mich herum anzuglotzen. Uns beachtete niemand, obwohl viele Menschen hier waren. Auf jedem Tisch brannte ein Lämpchen, ein Metallgefäß mit einer öligen Flüssigkeit, in der ein Docht schwamm. Wahrscheinlich weil es schön aussah. Der Platz um den Springbrunnen herum war mit Steinplatten in verschiedenen Farben gepflastert, an seinen Rändern leuchteten matt niedrige Laternen. Einige Autos parkten in der Nähe, die meisten Menschen schienen jedoch zu Fuß gekommen zu sein.
Wir setzten uns an den freien Tisch. Breite, bequeme Stühle, ein makellos sauberes, rosafarbenes Tischtuch aus Wolle, ovale und quadratische Teller, allerlei Besteck aus gelbem Metall. Die Unmenge von Gabeln, Löffeln und Messern beunruhigte mich ein wenig. Anscheinend hatte ich vergessen, wie sie zu gebrauchen waren.
Insgesamt gefiel es mir hier jedoch.
»Nur keine Sorge«, flüsterte mir Tag zu. »Erinnerst du dich an nichts?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir sind oft hier gewesen. Als wir noch im Internat gewohnt haben, fanden einige Unterrichtsstunden hier statt. Schon damals haben wir beschlossen, regelmäßig hierherzukommen.«
Tag amüsierte sich über etwas, das ihm völlig klar war. Welcher Unterricht wohl in einem Restaurant gegeben wurde? Tischmanieren? Wohl kaum, denn dann würde selbst ein behagliches Fleckchen wie dieses nicht derart angenehme Gefühle wecken.
»Und wer kommt hierher?«
»Wer immer Lust dazu hat. Wer in der Nähe wohnt oder arbeitet.«
Verstohlen beäugte ich die Menschen an den Nachbartischen. Größtenteils handelte es sich um Gruppen von drei oder vier Menschen verschiedenen Alters, aber meist nur eines Geschlechts. Bei den Pärchen überwogen ältere Leute.
Ging man normalerweise also mit seinen Freunden essen - und nicht mit seiner Familie?
Abermals stieg ein schmerzliches Gefühl in mir auf. Meine Heimatwelt, die mir fremd geworden war, zu verstehen und zu akzeptieren, das ist etwas anderes, als einen Nachttopf schwingend den Außerirdischen zu entkommen ...
»Hallo!«
Eine sehr junge Frau im Minirock und mit einem breiten, funkelnden Band über der Brust war an uns herangetreten.
»Hallo!«, erwiderte Tag.
»Ich erinnere mich an euch«, meinte die Frau lächelnd. »Du bist Tag. Und du Niki. Stimmt’s? Ihr seid doch auch aus Mütterchens Licht. Das Übliche?«
Tag sah mich betreten an.
»Das Übliche«, bestellte ich.
»Und ... eine Karaffe trockenen Wein«, ergänzte Tag.
Die Frau schnitt eine Grimasse und entfernte sich mit tänzelnden Schritten.
»Was ist Mütterchens Licht?«, fragte ich.
»Das Internat, in dem wir aufgewachsen sind. Das Mädchen ist auch von da, eine ihrer Formen der Vorbereitung-zur-Arbeit ist das Kellnern.«
»Also haben auch wir mal hier gearbeitet ...«
»Nicht gearbeitet!« Tag schüttelte energisch den Kopf. »Uns-auf-die-Arbeit-vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, Niki! Die Arbeit - das ist dein Schicksal! Das, was dir Vergnügen bereitet und für Die Heimat am nützlichsten ist.«
»Es ist alles weg, Tag«, stellte ich fest. »Wie ausgewaschen. Vielleicht sollte ich mich lieber ... umschmelzen lassen, so wie das Schiff.«
Tag lächelte gequält.
»Jeder wird es wissen, jeder wird Mitleid mit mir haben«, erklärte ich. »Alle, die ich kannte, werden mich anschauen, als sei ich ein bemitleidenswerter Kranker. Und selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte ...«
»Niemand wird etwas davon erfahren!«, unterbrach mich Tag scharf. »Wo denkst du denn hin! Das Persönlichkeitsgeheimnis!«
Das Wort kannte ich! Der Sinn erschloss sich mir im Großen und Ganzen auch, aber ...
»Die Verlautbarung dessen, was dir passiert ist, ist verboten!«, fuhr Tag fort. »Schließlich ist das eine unangenehme, dich traumatisierende Situation. Wir wissen Bescheid - aber nur, weil wir dir helfen sollen. Dein Ausbilder weiß Bescheid ... aber das verstehst du doch, oder? Das Komitee der Fernaufklärung muss eingeweiht werden, immerhin handelt es sich um lebenswichtige Informationen. Vermutlich wird der Weltrat davon erfahren. Aber sonst niemand. Keine einzige lebende Seele wird etwas davon wissen, sofern du es nicht von dir aus erzählst.«
»Das ist ja schön und gut«, sagte ich. »Aber wie soll ich denn mein Geheimnis wahren? Wenn mich sogar eine Kellnerin erkannt hat? Wenn sie sich daran erinnert, was ich gern esse - und ich selbst nicht?«
»Ich bin ja bei dir«, beruhigte mich Tag. »Der Ausbilder, Katti, Han, ich ... Solange du dich einlebst, sind wir immer in deiner Nähe. Du bist stark, Niki. Du wirst dich daran gewöhnen und ein drittes Mal geboren werden!«
»Und wann war das zweite Mal?«, hakte ich nach. »Sicher, ich kenne das Wort Zweite-Geburt. Aber was bedeutet es?«
»Zunächst kommst du auf die Welt«, holte Tag aus. »Die Liebe deiner Eltern und die Fürsorge Der Heimat schenken dir das Leben. Dann wählst du dein Schicksal. Der Ausbilder gibt dir dann einen Beruf. Das ist die Zweite-Geburt.«
»Bin ich eigentlich ein kompletter Idiot?«, fragte ich leise.
»Nein, Niki. Du bist krank. Jetzt wirst du gesund werden.«
Die Kellnerin kam mit einem Tablett zurück, und wir verstummten.
»Dein Fleisch, Niki.« Sie stellte ein Tongefäß vor mich, unter dessen Deckel Dampf aufstieg. Es roch lecker. »Und dein Fisch, Tag.«
»Danke, Mädchen«, bemerkte Tag.
»Brot ... und euer Wein.« Das letzte Wort sprach sie leicht missbilligend aus. Sie stellte ein rundes, mit einer rubinroten Flüssigkeit gefülltes Gefäß in die Tischmitte.
»Wir trinken ihn auf ärztliche Anordnung«, klärte Tag sie auf.
»Ach ... Guten Appetit.«
»Warum sprichst du sie nicht mit Namen an?«, fragte ich Tag, während ich der Kellnerin nachsah. Wer gefiel mir eigentlich besser? Katti oder sie? Keine Ahnung. Kattis Frisur war ziemlich hässlich. Ihr hätten lange Haare gestanden ...
»Woher soll ich ihren Kindernamen kennen?«, wunderte sich Tag. »In einem Jahr bekommt sie ihren Erwachsenennamen, dann mache ich mich mit ihr bekannt.«
Wie seltsam das alles war, wie erstaunlich ...
Schweigend nahm ich den heißen Deckel ab und tat mir Fleisch auf, große, appetitliche Stücke, die mit Gemüse vermengt waren. Tag beobachtete mich verstohlen, als erwarte er einen Ausruf meinerseits: »Jetzt erinnere ich mich!« Nein, Tag ... Mich erstaunten diese Lebensmittel nicht, ich wusste, dass Essen lecker sein muss, aber ich glaubte nicht, dass dieser gedämpfte Brei mein Lieblingsgericht war.
Tag tat sich zwei große Stücke weißen Fischs auf. Als er probierte, hantierte er geschickt mit zwei Gabeln zugleich. »Hmm!«, schmatzte er. »Ich verstehe wirklich nicht, wie man standardgerechten, idealen Fisch anders zubereiten kann! Aber es geht! In der Mensa vom Wohnheim ist das Essen viel schlechter!«
»Du wohnst im Wohnheim?«
»Ja-a ...« Tag verschluckte sich. »Genau wie du. Ein eigenes Zuhause bekommt ein Mensch, wenn er eine Familie gründet. Und wir sind halt noch Junggesellen!«
»Ich werde wohl ein ewiger Junggeselle bleiben«, prophezeite ich düster. Ich gab den Versuch, mit der winzigen Gabel zu essen, auf und schnappte mir einen großen Löffel. Tag nickte anspornend. »Wenn Junggesellen hier essen, ist es allerdings nur halb so schlimm!«