»Ein nettes Plätzchen«, schloss sich mir Tag an. »Aber lassen wir das. Was ich über den ärztlichen Rat erzählt habe, stimmt. Katti hat dir natürliche Psychostimulatoren verordnet.«
»Wein?«
»Ja.«
Er füllte zwei gläserne Becher und schaute versonnen durch eines hindurch auf den in der Schale brennenden Docht. Es dunkelte bereits, und der Wein im Glas funkelte mit kräftigem feiertäglichen Licht.
»Wie schön«, bemerkte Tag gedankenversunken.
Ich schaute ebenfalls durch das Glas auf die Flamme.
»Kein Ende kannte die Kerze, brennend auf dem Tisch. Die Kerze brannte«, sagte ich.
»Ist das ein Gedicht?«, fragte Tag erstaunt. »Wie aufschlussreich. Das müssen wir im Informatorium nachschlagen. Wer hat dich da wohl derart nachhaltig beeindruckt?«
»Wenn ich das wüsste.«
»Vielleicht ist es von dir«, vermutete Tag. »Du hast in deiner Kindheit selbst Gedichte zusammengeschustert, bis dir der Ausbilder irgendwann Zehntausend große Verse in die Hand gedrückt hat, dann hast du aufgehört, deine Kräfte zu vergeuden ... Gut, Niki. Auf deine Rückkehr.«
Ich hob mein Glas auf die Höhe des seinen und stieß mit dem Rand leicht dagegen. Das Glas antwortete mit einem feinen, angenehmen Ton.
»Was soll das?«, fragte Tag irritiert.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mir so ein Ritual ausgedacht.«
Der Wein trank sich gut, den Geschmack kannte ich. Ich nahm einen weiteren Schluck, bevor ich das Glas auf dem Tisch abstellte.
»Warum hat sich die Kellnerin über die Bestellung so gewundert?«
»Alkohol ist nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt«, erklärte Tag widerstrebend. »Es gibt zwar kein Verbot, aber es müssen gewichtige Gründe vorliegen, damit man sich seinen Genuss erlauben darf.«
»An gewichtigen Gründen mangelt es uns nicht.«
»Leider«, stimmte Tag zu.
Vier
Der Wein wirkte schnell, obwohl er ganz leicht war, der Alkohol kaum zu spüren. Doch ich hatte diesen Zustand erwartet und wunderte mich nicht, als über meinen Körper eine Welle der Entspannung wogte, das Entsetzen angesichts meiner Lage von mir wich und die Welt mir beinahe vertraut vorkam.
»Han kommt wohl nicht mehr«, meinte Tag seufzend. »Mein Herr Bruder ist mal wieder in seiner Arbeit versackt ...«
»Er ist dein Bruder?«
Tag war der Wein ebenfalls zu Kopf gestiegen, er wunderte sich über nichts mehr, nahm meine Amnesie gelassen hin.
»Ja. Als Kleinkind war er häufig krank, so dass man unseren Eltern geraten hat, ihn noch ein halbes Jahr bei sich zu Hause zu behalten. Auf diese Weise sind wir in einer Gruppe gelandet.«
»Und wer sind meine Eltern? Habe ich auch Geschwister?«
Tag runzelte die Stirn und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »Deine Mutter hat dich ein paar Mal besucht ... und dein Vater ... also ... Ich weiß es nicht, Niki! Du kannst im Informatorium anfragen.«
»Wozu? Das würde mir nicht helfen, Tag. Wenn ich euch nicht erkannt habe, dann würde ich meine Eltern ...«
»Stimmt schon ...« Er schenkte uns noch einmal Wein ein. »Man sollte ihnen keine solch katastrophale Enttäuschung zumuten. Trotzdem-auf-dein-Wohl!«
»Trotzdem-auf-dein-Wohl!«, wiederholte ich den traditionellen Trinkspruch, auf den bei einer potenziell gesundheitsschädigenden Handlung zurückgegriffen wurde ... Ich schüttelte den Kopf. Als ob sich über den Abgrund meiner Amnesie eine Brücke aus Wörterbüchern spannte! Was für ein Albtraum! »Auf dein Wohl!«
Wir tranken abermals.
»Ich brauche Schulbücher, Tag ...«, erinnerte ich ihn noch einmal. »Für Geschichte ...«
»Das Steinzeitalter. Was fällt dir dazu ein?«
»Mammuts, Tiger, Äxte, Pfeile?«
»Alle Achtung!« Tag lächelte. »Dein assoziatives Denkvermögen funktioniert.«
»Alle Assoziationen sind falsch.«
»Quatsch! Da meldet sich dein Wi ... dein Widerspruchsgeist. Danach kam das Knochenzeitalter.«
»Die Zähmung der Freund-Tiere, die Erfindung von Kufen und Rad, Ackerbau ...«
»Hervorragend!« Tag fuchtelte mit der Hand. »Dein Wortschatz ist noch erhalten. Und ein Wort ist schließlich nicht nur ein Symbol. Es enthält auch die Vorstellung von einem Objekt. Das heißt ... du hast eine Art Sicherheitskopie der Informationen. Dein Grundwissen über die Welt ist verloren gegangen, aber du bist in der Lage, aus den Wörtern Informationen zu ziehen! Sehen wir mal weiter. Das Burgenzeitalter ...«
»Soziale Differenzierung der Gesellschaft, Feudalherrscher, Kriege, Erz- und Ölgewinnung, Erfindung von Schießpulver und Napalm ...«
»Was du für kriegerische Assoziationen hast«, bemerkte Tag seufzend. »Ob dein Beruf dir seinen Stempel aufgedrückt hat? Ich würde mich vermutlich an den Alchimisten Rig Hattern erinnern, Rig den Stinkenden, und seine Entdeckung der Antibiotika. Sie sind meiner Meinung nach für die Gesellschaft viel wichtiger als das Napalm. Was ist, bleiben wir dabei?«
Ich nahm an, er meinte unsere Geschichtsstunde, aber Tag hatte an den Wein gedacht.
»Das ist doch gesundheitsschädigend«, wandte ich ein.
»Aber wenn es doch auf ärztlichen Rat hin geschieht ...« Tag geriet ein wenig in Verlegenheit. »Also, auf das Burgenzeitalter folgte das Industriezeitalter ...«
»Dampfmotoren, Elektrizität, die Feudalherrschaften haben sich endgültig in klaren Grenzen etabliert, Funkverkehr, Aufkommen der Schifffahrt, Entstehung der Tradition der Ausbilder ...«
»Siehst du! Du antwortest wie in der Schule!«, freute sich Tag. »Das Meereszeitalter?«
Hier stockte ich kurz. Als müsste ich sehr tief graben, um zu meinen Assoziationen zu gelangen. »Die ersten Karten des Sternenhimmels?«
»Und weiter?«
»Navigation ... Entdeckung und Besiedlung des quadratischen und des dreieckigen Kontinents ... der Große Fehler ...«
Ich verstummte.
»Du weißt nicht mehr, was der Große Fehler ist?«
»Nein.«
»Wir haben dort Leben vorgefunden, Niki«, erklärte Tag seufzend. »Intelligentes Leben. Die Befellten ...«
Die Befellten, die Verlorenen Freunde, Krieg, der Große Fehler, die Schande ...
»Wir haben sie vernichtet«, sagte ich. »Stimmt’s?«
»Ja, Niki. Diese Schande lastet auf der ganzen Menschheit. Aber damals schien der Krieg der einzige Ausweg zu sein. Sie waren weniger entwickelt, aber ausgesprochen talentiert und aggressiv. Lane Der Spät Bereuende hat einen Stamm von Pesterregern gezüchtet, der die Befellten innerhalb von rund vierzig Jahren dahingerafft hat.«
»Die Befellten waren Nicht-Freunde, aber wir hätten sie zu Freunden machen können«, hielt ich dagegen.
»Natürlich! Wir hätten sie sogar zu Freunden machen müssen! Aber die Einrichtungen des Progressorentums und des Regressorentums existierten damals noch nicht. Glücklicherweise haben die Ausbilder verstanden, welche Schuld die Menschheit auf sich geladen hat, und beschlossen, sie zu sühnen. Das Zeitalter der Vereinigung, erinnerst du dich daran?«
»Ausbildertum, Beseitigung der sozialen Unterschiede, Atomenergie, Umformung der Kontinente, Raumflüge ... die Planeten der Freunde. Richtig?«
»Ja. Wir sind mit primitiven Atomraketen in den Kosmos aufgebrochen. Die gesamte Menschheit aller drei Kontinente hat sich für dieses Ziel vereinigt. Die Flüge zum Inneren und Äußeren Planeten, die Siedlungen ... daran musst du dich doch erinnern!«