»Freunde, noch einen Moment«, entschuldigte sich Tag bei ihnen. »Noch eine Person.«
Automatisch nickte ich den beiden zu, die vermutlich Dienen verlassen wollten, blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken.
Eine Statue bohrte sich in den Himmel.
Nie zuvor hatte ich ein derart großes Denkmal gesehen ... nein, ein derart großes Haus in Form einer Statue. Sie stellte einen Menschen dar, einen älteren Mann, im leichten Mantel ... Einzelheiten, die mein Bewusstsein wahrnahm, die sich aber nicht zu einem Gesamtbild fügen wollten. Obwohl mein Verstand sich weigerte, die Höhe einzuschätzen, registrierte ich, dass sich der Kopf der Statue auf gleicher Höhe mit den Wolken befand.
»Die allegorische Figur eines Ausbilders krönt das Gebäude des Weltrats«, erklärte Tag mit der Stimme eines Fremdenführers. »Erschaffen vor mehr als zweihundert Jahren, ist es das höchste Bauwerk hier auf Der Heimat. Als seinerzeit die Versuche mit den Quarksreaktoren nach einem Bau verlangten, der das Gebäude des Rates überragt hätte, fand man folgenden Kompromiss: Die Versuchsanlage wurde erst gebaut, nachdem das Ratsgebäude um anderthalb Kiloschritt angehoben worden war.«
»Los jetzt!« Katti stürzte aus der Kabine. »Wir sind spät dran.«
Wir durchquerten den Park. Bis zum Fuß der Statue war es nicht weit, hier standen überall Kabinen. Und es wimmelte von Menschen. Sie schlenderten durch den Park, saßen auf den Bänken oder einfach im Gras und bewunderten das Gebäude. Mir war nicht klar, was ihnen daran gefiel, im Schatten dieser gigantischen Statue zu sitzen. Mich persönlich bedrückte das monströse Gebilde.
»Schau mal, deshalb war die sechste Kabine blockiert«, rief Tag aus. »Eine Exkursion.«
Aus einem Zylinder sprang ein Kind nach dem nächsten heraus. Die ersten Kinder, die ich auf Der Heimat sah. Alles Jungen. Sie hüpften fröhlich lachend aus der Kabine, verstummten jedoch sofort, drängten sich zu viert oder zu fünft in kleinen Gruppen zusammen und scharten sich um den unerschütterlichen Ausbilder.
»Sie sind das erste Mal in Dienen, das merkt man sofort«, kommentierte Tag freundlich, aber auch ein bisschen arrogant. »Ich kann ihre Gefühle gut nachempfinden.«
»Ich auch«, sagte ich, während ich den Kindern hinterherblickte.
Ein Junge lief zu seinem Ausbilder, schmiegte sich an ihn, fragte etwas und zeigte dabei auf das Ratsgebäude. Der Ausbilder lachte, zerzauste ihm das Haar und legte ihm den Arm um die Schultern.
Gab es nicht zu jeder Regel eine Ausnahme?
Gab es nicht für jede Ausnahme einen Grund?
Was bedeutete eine Berührung in einer Welt, in der ein ungeschriebenes Gesetz jeden Körperkontakt verbot?
Welche Kraft steckte hinter der Berührung durch eine andere Hand? Wärme, Liebe, Sorge, Vertrauen?
Aber genau das waren doch die treibenden Kräfte unserer Moral. Freundschaft, Liebe, Gleichheit ... oder poetisch gesprochen: Brüderlichkeit. Weshalb wurde dann die Liebe tabuisiert? Weshalb die Wärme eingeschränkt?
Ob womöglich das Monopol auf die Liebe die stärkste Waffe in dieser Welt bedeutete? Das Burgenzeitalter mit seinen Epidemien, der Pest und den bösartigen Geschwüren hatte uns vom Körperkontakt abgebracht. Es hatte ihn auf ein Minimum reduziert, ihn zu einer Verletzung des Anstands deklariert. Aber wenn irgendwo in der Seele das Bedürfnis nach der Berührung durch die Hand eines Menschen existierte, wenn ein Kind sich an den Kuss seiner Mutter erinnerte und sich innerhalb der vier Wände seines gemütlichen Internats danach sehnte - was verkörperten dann die Ausbilder? Waren sie etwa die Einzigen, die umarmen, trösten, loben, liebkosen und bestrafen durften?
Waren sie Heilige?
Ich schüttelte den Kopf.
Was für absurde Gedanken mir in den Sinn kamen! Was sollte das?! Schließlich war ich doch ein Teil dieser Welt, Fleisch von ihrem Fleisch! Und meine Welt war voll von Güte und Liebe - nur ich, der ich während meines Gedächtnisschwunds zu den dunklen Tiefen meines Unterbewusstseins hinuntergestolpert war, verlangte nach etwas Verbotenem, nach etwas, das die Geschichte längst verworfen hatte ...
»Was ist denn, Niki?«
In Kattis Blick lag Sorge.
»Es ist schwer, ein Neugeborener zu sein«, antwortete ich.
Das Gebäude des Weltrats wirkte innen noch bedrückender als von außen. Kleine Zimmer ließ man hier nicht gelten. Die Flucht von Sälen, die durch das Postament der »allegorischen Figur des Ausbilders« führten, zog sich derart endlos dahin, dass ich mich nicht über Flugapparate gewundert hätte, die durch das Gebäude flogen. Stattdessen gab es jedoch die üblichen Transportplattformen., »Siebter Saal, bei den Informationsschaltern«, erklärte Katti. »Schnell, Tag, schnapp dir eine Plattform!«
Überall schwärmten Menschen hin und her. Sie erledigten ihre Angelegenheiten, schauten sich um und studierten wie verzaubert in jedem Saal die gewölbte Decke, die mit farbenprächtigen Fresken bemalt war, sammelten sich vor den Säulen mit einem Terminal, die es allenthalben gab; sie kamen hierher, um zu arbeiten und sich zu erholen. Irgendwo spielte leise Musik, irgendwo schlurften Schritte, irgendwo verschmolzen gedämpfte Gesprächsfetzen zu einem sanften Rauschen.
Wir fuhren zusammen mit einem seriösen, schweigenden Ausbilder, der hier fraglos etwas zu erledigen hatte, und ein paar jungen Leuten auf einer Plattform in den siebten Saal. Die jungen Leute schienen einfach durch das Zentrum Der Heimat zu streifen und den Ausbilder mit begeistertem Respekt zu betrachten. Uns sahen sie übrigens ebenfalls voller Achtung an. Wir machten offensichtlich den Eindruck von Menschen, die sich aus gutem Grund in diesem Gebäude aufhielten.
Auch ich sah mich um, studierte vor allem die Deckenfresken. Eigentlich waren sie nichts Besonderes, eine Art Geschichtskurs in Bildern. Vom Steinzeitalter an aufwärts. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass das Berührungstabu sich auch auf die Bilder erstreckte. Nur die Ausbilder hielten jemanden an der Hand, nur sie trugen Verwundete aus brennenden Häusern, unterwiesen Kinder und trösteten Greise. Einige der Ausbilder waren noch jung, andere alt, ihre Kleidung unterschied sich durch nichts von der ihrer Mitmenschen. Trotzdem gab es da etwas in der Art der Darstellung, das es erlaubte, die Ausbilder zielsicher unter den anderen Figuren auszumachen. Ein bestimmter Edelmut in der Haltung, Weisheit in den Augen oder das Vertrauen im Blick der Umstehenden.
Übrigens dürfte es recht schwierig sein, eine Kuppel so auszumalen, dass die Bilder von unten überzeugend und proportional aussehen. Die Linien müssen bewusst verzerrt werden. Das Bild muss falsch und disproportional angelegt werden, damit es aus der Ferne realistisch wirkt ...
Ich rieb mir die Stirn. Nein, was für absurde Gedanken kamen mir da in den Sinn?
Am meisten frappierte mich ein Fresko, das die ganze Decke des sechsten Saals einnahm. Es zeigte ein tosendes Meer, spitze Felsen und einen von Sturmwolken verhangenen Himmel. Auf den Felsen standen ein Ausbilder und ein kleiner Junge. Der Ausbilder hatte dem Jungen einen Arm um die Schulter gelegt, mit dem anderen wies er aufs Meer, auf eine Stelle, wo ein Schiff mit gehissten Segeln die Wellen durchpflügte. Die gewaltigen Schaufelräder verschwanden halb im Wasser, an den Masten loderte Feuer. Wahrscheinlich sollte das Bild zum Meereszeitalter die Weisheit des Ausbilders illustrieren, der seinen Schützling auf die Schönheit des Sturms hinwies, auf die Kühnheit der Matrosen, die gegen die Naturgewalten kämpften ... vielleicht aber auch auf ihren verbrecherischen Leichtsinn. Der Kurs des Schiffs ließ keinen Zweifel daran, dass es im nächsten Moment an den Felsen zerschellen würde.
Mich beschlich der unangenehme Gedanke, der Ausbilder und der Junge würden nach der Katastrophe die Felsen runterklettern, um sich daranzumachen, die heilgebliebene Fracht zu bergen.