Han, der bisher geschwiegen hatte, hüstelte. »Du musst erwachsen werden, Niki«, fügte er unsicher hinzu. »Gewiss ist das leichter mit deinem Ausbilder an der Seite.«
Das war’s. Meine Freunde hatten für mich entschieden. Sie stimmten mit dem Weltrat und mit Fed überein. Vorbehaltlos unterstützten sie deren Entscheidungen. Unwichtige Probleme wurden auf der Ebene von Ausbilder und Schützling gelöst, und meine Meinung war unwichtig.
Nein, ich hatte ja gar nichts gegen den Beruf des Ausbilders! Wie ich auch nichts gegen den Beruf eines Wachtpostens in einem Energiewerk oder gegen die Arbeit mit landwirtschaftlichen Maschinen hatte. Ich kannte ihre Nachteile nicht. Und der Beruf des Ausbilders bot vermutlich lauter Vorteile.
Aber die dumme psychische Regression zwang mich zu innerlichem Protest. Als ob mir schon mein Leben lang irgendeine Rolle aufgedrängt worden wäre und ich mich hätte unterordnen müssen und das Ganze jetzt wieder von vorn losginge ...
Die Plattform hielt vor der Tür zum ersten Saal an. Wir gingen zum Ausgang. Fed beobachtete mich. Im Unterschied zu meinen Freunden, die mit der Entscheidung vollauf zufrieden waren, spürte er meine Anspannung.
»Vielleicht sollten wir alle zusammen in Mütterchens Licht vorbeischauen?«, schlug er plötzlich vor. »Ich könnte dafür sorgen, dass euch solange jemand bei der Arbeit vertritt.«
»Eine gute Idee, Ausbilder«, rief Katti begeistert aus.
»Eure Gesellschaft wird Niki helfen«, fuhr der Ausbilder fort. »Du und Tag, ihr habt schon einiges bei ihm geschafft. Wenn sich jetzt noch unser Sturkopf Han anschließt ...«
Han lächelte gequält.
»Abgemacht«, entschied Fed aufgeräumt. »Was sagst du dazu, Niki?«
Du brauchst mir meine Medizin nicht mit Gewalt zu verabreichen, Ausbilder ... Das sprach ich natürlich nicht laut aus. Er spürte es jedoch trotzdem.
»Möchtest du noch ein bisschen im Park spazieren, Nik? Oder sollen wir gleich ins Internat?«
Du brauchst mir meine Pille nicht zu versüßen, Ausbilder. Das ist nicht die Freiheit der Wahl, von der ich träume.
»Hier ist es mir zu finster, Ausbilder«, antwortete ich. »Fahren wir lieber zu Mütterchens Licht.«
Eine Kabine als Transportmittel ist ausgesprochen bequem. Es wunderte mich sogar, dass mein Gedächtnis keine angenehmen Assoziationen gespeichert hatte, die damit verbunden waren. Ob ich nicht häufig eine Kabine benutzt hatte?
»Zur zweiten Kabine des Internats Mütterchens Licht«, teilte Katti mir mit. »Na los, versuch’s.«
Die anderen räumten mir das Recht ein, als Erster durch den Raum zu reisen. Fragend guckte ich Fed an, der nickte.
Na, von mir aus.
Ich berührte das Terminal, bereits an die gelartige Masse des kolloidalen Aktivators gewöhnt. Und wenn ich eine andere Kabine wählte? Irgendwo am Ufer? Am Meer? Wie würden meine Freunde dann aus der Wäsche gucken, wenn sie mich nicht fänden ...?
Präzisieren Sie den Zielpunkt!
»Zweite Kabine des Internats Mütterchens Licht«, brummte ich. Meine plötzliche Angst überraschte mich, und ich schämte mich ihrer sehr. Nein, für die Rolle des Ruhestörers taugte ich nicht.
Steigen Sie ein!
Unter mir zuckte das blaue Licht auf. Jenseits der milchigen Wände des Zylinders schien sich nichts zu verändern.
Steigen Sie aus.
Auch hier erstreckte sich ein Park, allerdings ein ganz anderer. Rund um die Statue des Ausbilders in Dienen wirkte alles zu perfekt, akkurat, begradigt und kultiviert. Dort hatte es gerade Wege und nicht sehr hohe, beschnittene Bäume gegeben. Hier lag jedoch ein echtes Wäldchen vor mir. Viele Relikttannen mit bläulichen Nadeln, die so lang wie eine Hand waren. Und Wacholder. Ein einziger Sandweg schlängelte sich durch den Wald. Die Luft war regelrecht dick, derart schwängerte der Harzgeruch der Bäume sie, und wirkte lebendig.
Mit einem Mal wurde mir leicht zumute.
Ich trat von der Kabine weg und schaute mich um. In der Ferne, dort, wohin der Pfad führte, schimmerten die hellen Mauern von Gebäuden. Stille herrschte, nur ein leises Zirpen in den Büschen ließ sich vernehmen. Vielleicht rührte es von Insekten her, vielleicht von Vögeln, mein Unterbewusstsein soufflierte mir da nichts. Bisher war noch niemand sonst aus der Kabine herausgetreten: Möglicherweise hatte es eine Verzögerung gegeben, oder sie hatten beschlossen, mich ein wenig allein zu lassen.
»Guten Tag.«
Ich drehte mich um. In den Büschen tauchte der Kopf eines Kindes auf. Ein verschmutztes und neugieriges Gesicht.
»Hallo«, sagte ich. »Komm raus.«
»Sind Sie allein gekommen?«
»Nein, mit meinen Freunden und meinem Ausbilder.«
Der Junge linste zur Kabine rüber. »Dann hau ich lieber ab«, kündigte er an.
»Wie du willst«, erwiderte ich achselzuckend.
Da zögerte der Junge.
»Ich schwänze den Unterricht«, platzte er plötzlich heraus, fraglos begeistert von seiner eigenen Kühnheit.
»Alle Achtung«, lobte ich ihn ehrlich.
Das verwirrte ihn offenbar. Nach weiterem Zögern raschelte es im Gebüsch, und die kleine Gestalt flitzte zwischen den Bäumen davon.
Na, ich würde ja einen großartigen Ausbilder abgeben. Tüchtig wie ein Stock aus Sand ...
Wie bekam ich nur meine primitiven, unnormalen Reaktionen in den Griff?
Hinter der Plastikwand der Kabine leuchtete Licht auf. Die Tür öffnete sich, und Fed kam heraus. »Bist du allein?«, fragte er mich mit forschendem Blick.
»Ja«, log ich, ohne zu zögern - und zwar derart sorglos, dass mir der Ausbilder anscheinend glaubte.
»Erkennst du etwas, Niki? Meldet sich dein Herz?«
»Nein. Aber es gefällt mir hier.«
»Immerhin etwas«, meinte Fed seufzend. Er kam auf mich zu. Sein Gang war auch sonst munter und entschlossen, aber jetzt ging er geradezu federnd und energiegeladen, als ob die Tannenluft Kraft in ihn hineinpumpte. »Wie sollte es dir hier auch nicht gefallen, Niki?«
Als Nächste kam Katti aus der Kabine, dann Tag und schließlich Han. Auf ihren Gesichtern lag eine solche Begeisterung, dass ich sie beneidete.
»Ein Jahr bin ich jetzt nicht hier gewesen«, rief Katti aus. »Es ist alles noch genau wie früher! Sogar das Libellennest ist noch da!«
Ich spähte in die Büsche und versuchte, das Nest der sagenhaften Libelle auszumachen, konnte aber nichts entdecken.
»Wir sind zu einer günstigen Zeit eingetroffen«, sagte Fed. »Die Kleinen haben ihre Nachmittagserholung. Die Älteren sind beim Unterricht oder bei der Vorbereitung-zur-Arbeit. Da stören wir niemanden.«
Wir gingen den Pfad entlang. Ich bemerkte, wie die anderen mich immer wieder ansahen, als erwarteten sie, es würde ein Wunder geschehen und ich ausrufen: »Daran erinnere ich mich! Das ist doch der Baum, auf den wir in unserer Kindheit immer geklettert sind! Das ist der Busch, der Han die Haut aufgekratzt hat!«
Etwas in der Art hätte ich ohne weiteres sagen können. Bestimmt diente die Gegend um die Kabine Kindern schon immer zum Spielen. Hier versteckten sie sich, bauten heimlich Hütten und hinterließen geheime Nachrichten. Der Junge, der neben der Kabine auf zufällige Gäste gelauert hatte, bewies das. Aber ich wollte nicht lügen, nicht mal, um meinen Freunden eine Freude zu bereiten.
Sie würden mir selbst alles sagen, was ich mir ausdenken könnte.
»Erinnerst du dich noch, Niki, wie wir hier Regressor gespielt haben?«, fing Tag an. »Du hast dich in einem Hinterhalt versteckt und mit einem Armbrustpfeil Hans Barett abgeschossen! Katti hat dich danach den halben Tag durch den Park gejagt!«