»Und hat sie mich erwischt?«, wollte ich wissen.
»Ich glaub ja ...«, antwortete Tag. »Weißt du das noch, Katti?«
»Ich habe ihn erwischt - und ihn beinahe im See ertränkt«, brummte Katti. »Das war schon komisch, Nik, du bist beim Spielen sonst immer übervorsichtig gewesen!«
»Die Natur hat Niki eine Neigung zu impulsivem Verhalten mitgegeben«, mischte sich hinter mir der Ausbilder ein. »Ich habe lange gebraucht, um ihm beizubringen, diese Anfälle zu unterdrücken.«
Sie unterhielten sich noch über dies und das. Erinnerten sich an Spiele, Wettkämpfe, Kränkungen und Versöhnungen, was hier passiert war ... was da ... in der Nähe ... in der Ferne ...
Aber in mir lösten all diese Erinnerungen nichts als Traurigkeit aus.
Kindheit und Jugend waren mir gestohlen worden. Die Gegenwart voller Rätsel. Die Zukunft im Nebel.
Wie sehr hatte ich mich nach Der Heimat gesehnt! Ich hatte gehofft, sie würde mir mich selbst zurückgeben. Aber Wunder gibt es nicht. Und diese Welt, die so gut und wohlgestaltet war, so warm und fröhlich, sie war mir fremd.
Für immer fremd.
Die Bäume lichteten sich, und wir gelangten zu den Gebäuden des Internats.
Der Ort strahlte vor allem Ruhe aus. Die Gebäude waren sehr alt, aus unbehauenem Stein erbaut, der wahrscheinlich irgendwann einmal weiß gewesen, inzwischen aber nachgedunkelt war. Eine Kletterpflanze umrankte die Mauern, durch die grünen Stängel mit den vielen kleinen, orangefarbenen Blüten ließen sich gelbe und vertrocknete Blätter erkennen. Rund um die Fenster, die fast alle weit offen standen, wirkte die Pflanze recht mitgenommen, schienen Blätter und Blüten abgerissen. Aber natürlich ...
»Bin ich nachts gern durchs Fenster aus dem Internat geklettert?«, fragte ich, ohne mich an jemand Bestimmten zu wenden.
Han und Tag sahen sich verlegen an.
»Wir alle haben das gern gemacht«, gestand Han. »Erinnerst du dich daran?«
»Ich glaube nicht«, antwortete ich.
Vor den Mauern waren Beete angelegt. Dort war gerade eine Horde Kinder in Shorts und T-Shirt beschäftigt. Sie jäteten Unkraut und gossen mit kleinen Gießkannen die Blumen. Als sie uns bemerkten, unterbrachen sie ihre Vorbereitung-zur-Arbeit und fingen an zu kreischen. Ihre Begeisterung richtete sich vor allem auf den Ausbilder Fed, doch auch wir kriegten ein paar fröhliche Hallos ab und wurden mit der Frage bestürmt, ob wir lange blieben.
An Fed klebte sofort ein ganzes Dutzend Kinder. Er stand da, streichelte die zerzausten Köpfe, antwortete voller Ernst auf ihre Fragen und fragte die Kinder auch seinerseits etwas. Eine sehr anrührende Szene. Ein kleines Mädchen schaffte es allerdings nicht, zum Ausbilder vorzudringen, obwohl sie ununterbrochen in dem Versuch um ihn herumwuselte, den Kopf unter seine zärtliche Hand zu schieben. Als sie einsah, dass sie sich nicht zum Ausbilder durchkämpfen konnte, blieb sie stehen und sah uns beleidigt und finster an.
Ich maß meinem Verhalten keine besondere Bedeutung bei. Ich lächelte der Kleinen einfach zu und streichelte ihr über den Kopf.
Ganz kurz sah mich das Mädchen ungläubig an, bevor sie sich gegen mein Bein schmiegte, als verlange sie eine Wiederholung.
Nach und nach ließen die Kinder von Fed ab und scharten sich um mich.
Der Ausbilder und ich sahen uns schweigend an.
»Das ist der zukünftige Ausbilder Nik«, verkündete Fed laut. »Und jetzt wieder an die Vorbereitung-zur-Arbeit! Oder wollt ihr etwa nicht, dass eure Ausbilder stolz auf euch sind?«
Wir liefen an den widerwillig von uns ablassenden Kindern vorbei zum Hauseingang.
»Du wirst ein guter Ausbilder«, sagte Fed leise. »Ich habe keinen Zweifel, dass du in zehn, zwanzig Jahren im Weltrat sitzen wirst. Aber überstürze nichts.«
»Das werde ich nicht.«
»Du bist sehr emotional, Niki. Du bist jung und voller Energie. Aber du musst noch viel lernen.«
»Ich weiß.«
Ins Internat führten ganz normale Türen, nicht diese Wärmevorhänge. Allem hier haftete etwas Altes an. Den dicken Teppichen auf dem Fußboden, den Bildern an den Wänden - keine epischen wie in den Sälen des Rats, sondern normale schöne Landschaften - den im Vestibül stehenden durchgesessenen Sesseln. Natürlich gab es auch hier die unvermeidlichen Bildschirme mit den Terminals. In einer Nische am Eingang stand unter einer alten, auf Hochglanz polierten Kupferglocke ein kleiner Junge. Wahrscheinlich war das eine Art Ehrenwache, er rührte sich nicht einmal, als wir auftauchten, schielte nur mit den Augen kaum merklich in unsere Richtung und versuchte, einen Blick auf die Gäste zu erhaschen.
»Hallo ... Lotti«, begrüßte der Ausbilder den Jungen nach einem kaum zu bemerkenden Zögern.
Der Junge lächelte.
»Guten Tag, Ausbilder!«
»Und wer begrüßt unsere Gäste?«, fragte Fed tadelnd.
»Guten Tag!«, rief der Junge aus.
Mein Gefühl, all das, was hier geschah, sei irreal, wuchs und wuchs.
Das ist nicht mein Zuhause!
Ich kann hier nicht aufgewachsen sein!
Mit diesen portionierten Zärtlichkeiten der Ausbilder, beschäftigt mit dem Jäten von Unkraut in den Beeten, nachts durch die Fenster ausbüxend, auf der Suche nach einer kurzlebigen Freiheit ... Das war nicht ich! Bestimmt nicht!
Während wir eine breite Treppe hinaufstiegen, bei der goldfarbene Stangen einen verschlissenen Läufer gegen die Stufen pressten, begrüßten wir die Kinder, die die Fenster und Böden in den Etagen wischten.
Hygiene. Die musste sein.
»Das da ist die Tür von unserem Zimmer, Niki!«, rief Tag aus. Ich hatte sogar den Eindruck, er wäre in seiner Aufregung bereit, meine Hand zu ergreifen. Katti sah ohne besondere Gefühle auf die Tür, Han nickte nur phlegmatisch.
»Wir gehen erst zu mir«, kam uns Fed zuvor. »Wir wollen mal sehen, wo wir euch unterbringen können. Vielleicht ...« Er ließ den Satz unbeendet.
Der Ausbilder wohnte im dritten Stock. Es kam mir so vor, als fiele es ihm nicht eben leicht, die Treppe zu nehmen, aber einen Fahrstuhl gab es nicht.
»Kommt rein, Kinderchen«, forderte Fed uns auf, nachdem er durch eine Berührung mit der Hand die Tür entriegelt hatte. »Kommt rein.«
Ein helles und großes Zimmer. Mehr konnte man darüber vermutlich nicht sagen. Mit dem schmalen Bett erinnerte es an die Unterkunft eines Asketen. Ein riesiger Schirm fürs Terminal, zwei Sessel an einem Tisch, Regale mit Büchern und Sachen ... Mein Zimmer schien eine kleinere Kopie von diesem hier zu sein.
Einen Unterschied gab es allerdings. An der Wand, vor der keine Möbel standen, prangten unzählige winzige Farbphotos. Sie waren bunt durcheinander angebracht, immer vier, fünf Bilder zu einer Gruppe zusammengefasst. Und alle zeigten Kindergesichter.
Der Ausbilder Fed hatte schon viele Schützlinge großgezogen. Ich baute mich vor der Wand auf und ließ den Blick über die lachenden Gesichter der Kinder schweifen, in der Hoffnung - und Angst -, mein eigenes zu entdecken.
Zunächst entdeckte ich jedoch den kleinen Tag. Als Kind hatte er helleres Haar gehabt, trotzdem erkannte ich ihn. Genau wie Han, der mir ebenfalls keine Probleme bereitete. In diesem Ensemble von Photos blieben noch zwei Jungen. Der eine hatte leuchtend rotes Haar und Sommersprossen, einer von denen, über die man sagt: »Das Mütterchen liebt sie«, und er strahlte über beide Backen.
»Ist das Inka?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete der Ausbilder leise. »Er ist gestorben ... er ist dort geblieben ... als er den Aufbruch gedeckt hat.«
»Tag hat es mir erzählt«, sagte ich.
Dann war der andere wohl ich?
Anscheinend das einzige Kind an der ganzen Wand, das nicht lachte. Das einzige Kind mit gerunzelter Stirn, sogar angespannt.
Der Ausbilder hätte bestimmt einen anderen Moment für die Aufnahme finden können. Aber ihm muss diese Situation besonders richtig und angemessen vorgekommen sein.