Eigentlich spielte es aber gar keine Rolle. Was sollte ich jetzt tun? Erfrieren? Von Haus zu Haus rennen?
Ich trat gegen die Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen, ohne Schmerz in den tauben Fingern zu spüren. Es verging nicht weniger als eine Minute, bevor es im Schloss knackte und die Tür in die Mauer glitt.
Ein geräumiger Vorraum. Blendende Lampen an der Decke. Ein würfelförmiges Gitterding an der Tür - ich spürte sofort die Wärme, die davon ausging.
Und dann noch ein gebeugter älterer Mann, der mir die Außentür geöffnet hatte.
Seine Glatze und die in den Nacken gerutschte Strickmütze entblößten auf dem ganzen Kopf trockene Grindstellen. Er hatte kleine, hellblaue Augen, die sich in mich hineinbohrten, und ein dunkelhäutiges, hageres Gesicht.
Seine dicke, formlose Kleidung war von schmutzig grauer Farbe.
»Da bist du ja«, begrüßte er mich.
Man hatte mich also erwartet. Mich aber dennoch von der Kabine allein herstapfen lassen, obwohl ich die Gebäude durchaus hätte übersehen können.
Ich trat vor und schob den Mann beiseite. Schweigend machte er mir daraufhin freiwillig Platz.
Ich setzte mich vor den Heizwürfel und streckte die klammen Hände der Wärme entgegen. Langsam wich die Kälte aus meinem Körper.
Nach einer geraumen Weile schloss der Mann die Außentür. Er blieb stehen, trieb mich aber nicht an.
Ich zog die Schuhe aus und schüttelte den eingedrungenen Schnee heraus. Die dünnen weißen Socken waren jetzt braun und nass, ich wagte es jedoch nicht, sie ebenfalls auszuziehen. Nachdem ich mich etwas bequemer hingesetzt hatte, streckte ich die Füße der Wärme entgegen.
»Willst du da Wurzeln schlagen?«, fragte der Mann leise.
»Das wird sich finden«, warf ich ihm hin, ohne mich umzudrehen.
Der Mann gickelte, anscheinend gefiel ihm meine Antwort.
»Ich bin Agard. Agard Tarai.«
»Nik Rimer«, stellte ich mich vor.
Er ließ eine weitere Minute verstreichen, bevor er mich fragte: »Was ist, wollen wir jetzt weiter?«
»Ich habe den Eindruck, man würde mich schon mein ganzes Leben lang antreiben. Warte noch.«
Ich zog mir die Schuhe wieder an und bewegte die Zehen. Sie taten etwas weh, waren aber nicht abgestorben.
»Hast du dir Frost gefangen?«
»Nein.«
Ich stand auf und musterte Agard. Er war so hässlich, dass es ihn sympathisch machte.
»Was wäre passiert, wenn ich diese Häuser nicht bemerkt hätte, Agard Tarai?«
»Dann hätten die Wendigen Freunde dich gerettet.«
»Sind die etwa auch hier?«
»Das hier ist sozusagen ihr Zuhause.« Agard lächelte und entblößte damit weit auseinanderstehende, gelbe Zähne. »Die Bedingungen bei uns sind fast wie auf dem Äußeren Planeten, allerdings gibt es hier mehr Schnee. Das gefällt ihnen aber.«
Ich schaute mich noch einmal im Vorraum um, diesmal aufmerksamer und ruhiger. An der Wand waren in einem grob gezimmerten Holzverschlag zwanzig Spaten aufgestellt. Ganz normale Dinger, genau wie aus dem Burgenzeitalter. Die Hälfte von ihnen wurde häufig benutzt und hatte glänzende Griffe und funkelnde, abgeschliffene Blätter.
»Bin ich der elfte?«, fragte ich.
Agard folgte meinem Blick. »Kluger Junge«, meinte er nickend. »Ja, ja, es fehlt uns stets an Arbeitskräften. Viele kommen nämlich nicht in den Genuss, in den Frischen Wind geschickt zu werden.«
Ich trat vor die Tür, die ins Haus selbst führte. Sie stand halb offen.
»Lass dich nicht unterkriegen«, warf mir Agard nach.
Anscheinend war das ein ehrlich gemeinter Rat ...
Im Unterbewusstsein hatte ich mit etwas gerechnet, das sich mit dem Internat oder dem Wohnheim vergleichen ließe. Gänge, Treppen, kleine Zimmer ...
Vor mir lag jedoch nur ein einziger Raum. Schmutzige Holzwände, die mit irgendwelchen Aufschriften beschmiert waren. Fenster, durch die man nicht blicken konnte. Lediglich die Hälfte der Deckenlampen brannte, eine von ihnen flackerte, um sie herum prangte ein feuchter Fleck. Ob die Decke undicht war?
Die Einrichtung fügte sich ins Bild. An den Wänden standen ein paar Heizgeräte. Reihen von Etagenbetten aus Eisen, ein großer, zerkratzter Tisch mit einem Dutzend Stühlen und einem Sessel. Im Sessel saß ein Mann, der etwas älter war als ich. Mit seinem blassen Gesicht, den langen blonden Haaren und dem plüschigen, grellrosafarbenen Anzug nahm er sich hier wie ein zufälliger Gast aus. Bei meinem Anblick presste er die Lippen fest zusammen, winkte mich aber trotzdem heran.
Die Stühle waren ebenfalls alle besetzt. Ich ließ den Blick über die Gesichter schweifen und hielt gedanklich fest, dass die meisten Bewohner des Sanatoriums noch jung waren. Von Agard abgesehen, der mir langsam aus dem Vorraum nachschlurfte, gab es nur noch einen älteren Mann, einen sehr kräftigen, hochgewachsenen Mann mit klugem Gesicht, der einen eng anliegenden dünnen Anzug aus silbrigem Stoff trug, unter dem sich seine Muskeln wölbten. Er saß ein wenig abseits ... bewusst abseits.
Ich trat an den Tisch heran. Da es keinen freien Stuhl mehr gab, zögerte ich. Niemand sagte etwas. Daraufhin setzte ich mich auf den Rand des Tischs, indem ich einen Metallbecher zur Seite schob, der mit einer heißen, dampfenden Flüssigkeit gefüllt war.
»Recht forsch«, bemerkte der blonde Mann in leicht vorwurfsvollem Ton. »Wie heißt du?«
»Nik Rimer«, antwortete ich.
Der Mann trank einen Schluck aus seinem Becher und lächelte verzückt. Im Raum hing ein schwacher Geruch nach Alkohol. War der im Sanatorium etwa nicht verboten?
»Ist dir kalt?«
»Ein bisschen.«
»Dann wärm dich auf.«
Er hielt mir seinen Becher hin. Eine Sekunde wartete ich, ob mir jemand den Becher weiterreichte, denn ich wollte nicht vom Tisch aufstehen.
Schließlich nahm ich mir von einem zerkratzten Plastiktablett einen sauberen Becher und füllte mir mit einer Kelle etwas aus einem großen Topf ab. Ich trank.
Die Flüssigkeit war süß und heiß, mit einem guten Schuss Alkohol. Wärme durchströmte meinen Körper.
Der Mann hielt mir seinen Becher immer noch hin. Irgendwann zuckte er mit den Schultern und trank ihn selbst aus.
»Und weshalb hat man dich ins Sanatorium geschickt, Nik?«
»Ich bin falsch über die Straße gegangen.«
»Nik, wir sind hier unter uns«, bemerkte der Mann tadelnd. »Also erzähl.«
»Ich nehme an, ihr kennt die Geschichte sowieso. Ich habe meinem Ausbilder eine in die Fresse gehauen.«
»Wirklich?« Der Mann spielte den Erstaunten. »So etwas gehört sich nicht ...«
Was für eine Farce. Bis auf diesen blassgesichtigen Schönling vor mir schwiegen alle, ein paar musterten mich, ein paar wandten den Blick ab. Der ältere Kraftprotz betrachtete seine Finger, untersuchte sie mit der Neugier eines Blinden, der gerade eben sehend geworden war.
»Es gehört sich nicht, einen Ausbilder zu schlagen!«, wiederholte der Typ. »Wieso hast du das getan, Nik?«
»Es musste sein.«
Ich nippte erneut an dem heißen Alkohol.
»Er ist in Ordnung«, mischte sich hinter mir Agard überraschend ein. »Er ist in Ordnung, Kley.«
Er wandte sich nicht an den blassen Typ. Aber das hatte ich auch nicht erwartet.
Der Kraftprotz riss sich kurz von seinen Händen los und sah Agard missbilligend an. »Dich hat niemand gefragt. Komm her, Nik.«
Ich stellte den Becher ab und ging zu ihm.
»Ich heiße Kley Harter. Und zwar genauso, keine Spitznamen. Das musst du dir als Allererstes einprägen.«