Nach wie vor sah er mich nicht an, ließ er sich nicht zu einem Blick herab.
»Wir führen hier unser eigenes Leben, Nik. Ein schwieriges, anstrengendes Leben. Wir alle sind ... krank. Wir alle sind in Behandlung. Was ist die beste Medizin, Nik?«
»Arbeit.«
»Richtig. Das merk dir als Zweites. Angeblich hast du einen Hirnschaden. Das ist gut. Dann wirst du dich hier leichter einleben.«
Ich schwieg. Er gefiel mir immer weniger. Und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Such dir irgendeines der oberen Betten aus«, wies mich Kley an. »Die Nachtzeit wurde bereits eingeläutet, daran müssen wir uns halten.«
»Und warum eines der oberen Betten?«, fragte ich mit einem Blick auf die Reihen von Betten. »Sind die unteren alle belegt?«
»Für dich ja.«
Im Grunde war es mir völlig einerlei, wo ich schlief. Ich wollte auch nicht wissen, warum ich mich an die Nachtzeit halten sollte, während sonst niemand ans Schlafen dachte. Ich ging zu einer der Reihen, zog mein Jackett aus und warf es auf das nächstbeste Bett.
»Komm zurück«, befahl Kley leise. »Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende. Abgesehen davon ist es verboten, sich ohne Erlaubnis zu entfernen. Das musst du dir merken.«
»Als Drittes?«
Endlich sah er mich an. Durchdringend, abschätzend.
»Ja.«
»Was sonst noch?«
Kley erhob sich. Er überragte mich um einen Kopf. Und sein Alter dürfte seine physische Verfassung kaum beeinträchtigen.
»Einen alten Ausbilder zu schlagen ist mies«, sagte er. »Ich bin ebenfalls Ausbilder. Könntest du mich schlagen?«
»Ohne Grund nicht.«
»Ganz recht.« Kley breitete die Arme aus. »Ohne Grund sollte man kein schlechtes Verhalten an den Tag legen.
Aber was wäre, wenn du einen Grund hättest? Denk gut darüber nach! Und? Können wir das Thema abhaken?«
Ich nickte.
»Guck einmal hinter diese Tür«, verlangte Kley.
Unter dem Blick von zehn Leuten ging ich schweigend zur Tür. Ich öffnete sie. Im Unterschied zur Außentür funktionierte das Schloss hier.
Die Sanitäreinheit. Fünf Klos, ihnen gegenüber fünf Duschkabinen.
»Fangen wir mit der Therapie an«, sagte Clay. »Die Sanitäreinheit muss sauber gemacht werden. Die Klosetts müssen blitzen. Wenn du gut suchst, findest du eine Bürste und Scheuermittel. Wenn du sie nicht findest, musst du dir was einfallen lassen.«
»Ich glaube, diese Arbeit wird nach einer bestimmten Reihenfolge erledigt«, sagte ich.
»Völlig richtig. Und heute bist du dran.«
Ich zögerte. Hier herrschte ein eigenes Leben, mit eigenen Gesetzen. Vielleicht mussten Neulinge die Klos schrubben und in den oberen Betten schlafen.
Aber diese Gesetze gefielen mir nicht.
Ich schloss die Tür.
»Ich glaube, da irrst du dich, Kley Harter«, sagte ich.
»Aber vielleicht irrst auch du dich? Und zwar gewaltig?«
»Vielleicht«, räumte ich ein. »Aber wenn, dann mache ich wenigstens meinen eigenen Fehler.«
Kley kam auf mich zu. Ganz gemütlich.
»Kli, das ist ein Regressor, vergiss das nicht! Er kennt fiese Tricks!«, schrie der Blonde mit dünner Stimme. »Kli, der tut dir am Ende noch was!«
Kley reagierte nicht. Er lächelte sogar. Ob die Ausbilder vielleicht auch fiese Tricks kannten? Oder war er sich sicher, die Amnesie hätte mir alle Kenntnisse genommen ...?
Ich schaffte es nicht, auf den Schlag zu reagieren. Als ich ihn bemerkte, war mir klar, dass ich einen Kinnhaken einstecken würde, aber mein Körper war noch zu matt, zu entspannt von der Wärme.
Die Welt schwankte, und ich flog an die Wand. Ich prallte mit dem Hinterkopf auf, dass mir schwarz vor Augen wurde. Meine Hand traf auf das glühende Gitter eines Heizgeräts. Der Schmerz der Verbrennung brachte mich zur Besinnung. Ich fuhr zusammen und rappelte mich an der Wand hoch. Aus der aufgeplatzten Lippe tropfte Blut.
»Fangen wir mit der Therapie an«, sagte Kley. »Also, es gehört sich nicht, mit dem Barackenältesten zu streiten, erst recht nicht, wenn er ein Ausbilder ist ...«
»Du bist schon lange kein Ausbilder mehr!«, schrie Agard plötzlich. »Lass den Jungen zufrieden, Kley.«
Tarais Stimme erstarb, als Harter kurz in seine Richtung blickte. Anscheinend bedauerte Agard seine Intervention sofort. Mir jedoch hatte sie Kraft gegeben. Eine bessere Stütze als die Wand in meinem Rücken.
Hatte ich wirklich unrecht?
»Bereust du?«, fragte Kley, als er auf mich zukam.
»Nein«, flüsterte ich.
»Das wird dir noch leidtun. Mann«, meinte Kley mitleidig.
Etwas veränderte sich. Etwas geschah mit mir. Die Farben traten leuchtender hervor, die Geräusche nahmen eine betäubende Lautstärke an. Das Atmen der Leute kam mir wie Donner vor, die Bewegungen Kleys langsam und ungelenk. Mein Herz setzte einen Moment lang aus - um dann wie wahnsinnig loszuhämmern, in einem verzweifelten Rhythmus. Poch-poch, poch-poch-poch ... Ich hatte mich schon einmal an dieser Grenze befunden, an diesem letzten Mal, das mich von einem schrecklichen und wahnsinnigen Moment trennte ... einem Moment, nach dem etwas passieren würde. Damals hatte ich, von Tag und Han festgehalten, widerstanden.
Aber diesmal nicht.
Kley sprang vor und streckte die Hand nach meiner Kehle aus. Ich wich zur Seite, glitt weg. Mein Körper lebte sein eigenes Leben, ich beobachtete nur das Geschehen, war ein betäubter, paralysierter Beobachter namens ... namens ...
Der Barackenälteste schlug gegen die Wand, bewegte den Kopf hin und her, drehte sich um. Doch da stand ich schon neben ihm. Ohne jede Hast wartete ich, bis Kley ausholte, verzweifelt ausholte, denn er hatte bereits begriffen, dass Jäger und Opfer die Rollen getauscht hatten.
Keine Angst, keine Angst, flüsterte in meinem Kopf ein unsichtbarer Chor. Das kannte ich, das war fast wie beim Steuerungssystem, dann aber doch ganz anders, absolut anders ... ich kannte das, ich erinnerte mich ...
Ich fing die Hand, die mich schlagen wollte, ab - was sich als genauso leicht herausstellte, als schnappte ich nach einem im Wind schwankenden Ast. Und das Knirschen, als die Knochen des ehemaligen Ausbilders unter meinen Fingern brachen, war ebenso hölzern und in keiner Weise schrecklich.
Er schrie auf, aber es steckten ungeheure Kraft und ein enormer Willen in ihm, in diesem alten, kräftigen Mann, der mich das Leben lehren wollte. Sogar einen Tritt unter die Gürtellinie versetzte er mir noch, einen starken und präzisen Tritt.
Ich verspürte keinen Schmerz.
Schmerz war für die anderen.
Von nun an und für immer.
Ich kugelte ihm den Arm aus, an der Schulter. Das ist ein schwaches Gelenk, und der Schmerz der reißenden Muskeln ist stärker als von einem gebrochenen Knochen.
Kampftransformation ...
Es waren drei, die sich auf mich stürzten, während ich über dem zu Boden gestreckten Kley Harter aufragte. Von den anderen rührte sich niemand. Sie erwiesen sich als weitsichtiger.
Jeder der drei bezog einen Schlag. Mehr bedurfte es nicht. Jedes Mal in den Bauch, ins Nervenzentrum. Ich wusste nicht, wohin ich schlagen musste, aber meine Hände wussten es. In die Knoten des parasympathischen Nervensystems, direkt ins Zentrum, damit umgehend eine unerträgliche Schmerzexplosion erfolgte. Drei Körper, die sich am Boden krümmten.
Ich wollte mehr!
Das gefiel mir!
»Nnnicht-Freuuund!«
Die Stimme des blonden Jüngelchens klang gedehnt und zäh. Er war inzwischen in den Vorraum geschlüpft und kam jetzt mit einem Spaten zurück. So linkisch wie er ihn hielt, konnte die Arbeitstherapie wohl nicht für alle im Sanatorium gelten ...
Ich streckte den Arm aus und fing das funkelnde Spatenblatt mit dem Handgelenk ab. Mein Hemd zerriss, vom scharfen Stahl zerschnitten.