Ja, von allem, bis auf den Äthylalkohol, befahl ich dem Cualcua. Ich schüttelte den Kopf. Gott behüte, dass diese Symbionten je das Recht erhalten, auf der Erde zu leben. Das würde sämtlichen Onkel Koljas der Welt die Möglichkeit geben, sich absolut unbekümmert volllaufen zu lassen.
»Also, weshalb bist du nun hier?«, fragte ich.
»Ich bin Historiker. Genauer gesagt, ich war Historiker ...« Agard trank einen Schluck aus dem Becher. »Du hast doch sicherlich schon mal gehört, dass Geschichte die wichtigste aller Wissenschaften ist?«
»Ich erinnere mich nicht mehr daran. Aber ich glaube dir aufs Wort.«
Agard nippte erneut an dem Fusel. Er würde morgen keinen leichten Tag haben ...
»Sie ist die wichtigste, weil sie die gefährlichste ist.« Er lächelte bitter. »Denn manchmal ... manchmal ist es gefährlich, zu tief zu graben. Vor allem, wenn man anschließend über das spricht, was man ausgegraben hat.«
Ich wartete auf eine Konkretisierung dieser Worte, doch Agard hatte nichts dergleichen vor. Grinsend schaute er ins Nichts, als bereite ihm das Wissen, das ihn in den Frischen Wind gebracht hatte, selbst heute noch Vergnügen.
»Verstehe. Wenn du willst, erzähl - wenn nicht, dann nicht«, sagte ich.
»Wer bist du, Nik?«
»Ein Regressor. Ein Pilot der Fernaufklärung.«
»Ich habe von dir in den Nachrichten gehört«, bemerkte Tarai nachdenklich. »Vor langer Zeit allerdings ... Wir müssen uns täglich die Abendnachrichten angucken ... Ich glaube, du warst einer der Aufklärer, die den Raum vor dem Aufbruch ausgekundschaftet haben?«
»Vielleicht. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich leide wirklich unter Amnesie, Agard.«
»Dann werde ich es dir erzählen«, ereiferte sich Tarai. »Mein Gedächtnis funktioniert noch ... so überraschend das auch klingt ... Du warst einer von drei Aufklärern, die als erste in dieses Raumgebiet aufgebrochen sind.«
Der schwarze Abgrund des Kosmos. Lichtblitze, dann Schiffe, die aus dem unendlichen Nichts kommen ...
»Ich weiß nicht, was für mich gilt, aber mein Schiff war mit Sicherheit unter diesen drei«, räumte ich ein.
»Spaßvogel.«
Tarai genoss seine neue Stellung fraglos. Ein voller Becher mit Fusel in der Hand, eine Unterhaltung, die Deklassierung des bisherigen Barackenbosses ...
Und wer war ich denn, den einstigen Historiker zu verurteilen? Wenn man Jahr um Jahr hier lebt, stellt vermutlich jede Änderung des gewohnten Trotts einen Segen dar.
»Du schläfst besser hier«, erklärte Agard, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Sonst wäre diese Nacht deine letzte. Entweder würde Kley dich umbringen oder seine Freunde.«
»Und du?«
»Man würde es erst wagen, mich umzubringen, wenn du schon tot bist«, behauptete Tarai. »Du hast heute eine Vorstellung geliefert, die alle ins Grübeln bringen wird. Alle, bis auf Kley. Zwei Anführer kann es nicht geben. Selbst in einem Rattenschwarm kommandieren nicht zwei Nager, und wir ... wir sind nur wenig besser als Ratten.«
Cualcua?
Deine Sicherheit wird ständig überwacht. Ich brauche keinen Schlaf.
»Ich werde in der Baracke schlafen«, stellte ich klar. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Demjenigen, der es wagen sollte, mich heute Nacht anzugreifen, wird das nicht gut bekommen.«
Tarai sah mich zweifelnd an. »Du musst es ja wissen, Regressor. Ich kenne schließlich nicht alle eure Tricks. Ich könnte dir höchstens sagen, wie ein Regressor vor hundert Jahren gewesen ist. Von denen heute ...«
»Erzähl mir, was es mit dem Aufbruch auf sich hat.«
»Was?«
»Was es mit dem Aufbruch auf sich hat.«
»Du weißt das wirklich nicht?«
»Ich leide an Amnesie«, wiederholte ich müde. »Einiges konnte ich rekonstruieren. Sehr vieles jedoch nicht.«
»Bei den Göttern der Alten!«, rief Tarai begeistert aus. »Ich, seit zehn Jahren ein Patient des Sanatoriums, kann jemandem etwas Neues mitteilen!«
»So ist es, Agard. Und ich werde dir sehr dankbar sein.«
»Du wirst dich doch noch daran erinnern, dass Das Mütterchen früher in einem anderen Himmel geleuchtet hat? Dass es früher so viele Sterne gab, dass sich die Nacht kaum von einem bedeckten Tag unterschied?«
»Gehen wir davon aus, dass ich mich daran erinnere. Obwohl ich es eigentlich gelesen habe.«
»Das ist doch nicht möglich!« Tarai fuchtelte mit der Hand, die den Becher hielt, so dass der wertvolle Schnaps überschwappte. Traurig betrachtete er die betropfte Wattejacke und fuhr fort: »Ihr seid schwer auf die Nase gefallen! Ihr, unsere geliebten Regressoren! Indem ihr sie, eure Nase, vor zwölf Jahren dorthin gesteckt habt, wohin ihr sie nie hättet stecken dürfen! Ihr wolltet Freundschaft herstellen - und habt eins auf die Finger gekriegt!«
»Und das freut dich?«, fragte ich erstaunt.
»Ja!«, antwortete Tarai in provokantem Ton. »Freilich, die Jungen, die gestorben sind, tun mir leid. Natürlich. Aber früher oder später musste so etwas passieren! Man kann nicht ohne Ende die eigene Ethik ins Universum hinaustragen, selbst wenn sie absolut richtig ist. Die Sterne brauchen unsere Liebe nämlich nicht, Nik!«
»Und was brauchen sie dann? Wenn nicht Liebe?«
Es war nicht so, dass ich nicht mit ihm übereinstimmte. Im Gegenteil, sein leiser Aufstand gefiel mir ... mir, dem Weltraumfuhrmann Chrumow, nicht dem Regressor Nik.
»Was sie brauchen? Ich weiß es nicht, Nik.« Agard breitete die Arme aus. »Ich bin nur Historiker. Kein Prädiktor, kein Philosoph oder Ausbilder ... Vielleicht Respekt?«
»Anstelle von Liebe?«
»Vor der Liebe. Falls sie sich denn einstellen sollte, natürlich. Die Liebe, das ist eine komische Sache ...« Tarai lachte. »Weißt du, wie viele Bedeutungen dieses Wort früher hatte? Und wie viele sind heute davon noch übrig? Na? Wenn man dir von klein auf die Freundschaft mit einem Mädchen erlaubt und dir ständig erzählt, dass ihr ein Paar seid, wie geschaffen füreinander, ist das dann wirklich noch Liebe?«
»Nein«, antwortete ich. Dann stellte ich mir Katti vor und korrigierte mich: »Ich weiß es nicht.«
»Du bist ein kluger Junge, Nik. Nur wenige bringen das überhaupt zustande, zu sagen: Ich weiß es nicht.« Tarai seufzte. »Also, der Aufbruch. Ich bin abgeschweift... Wir sind geflohen, Nik. Wir sind in beschämender und erniedrigender Weise geflohen, als wir vor der Wahl standen, uns zu verkrümeln oder vernichtet zu werden. Die vielzitierte Lüge von dem Wunsch, Opfer vermeiden zu wollen ... das ist nichts anderes als euer geliebtes Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit ...«
Er lachte aus vollem Hals - bis er abrupt verstummte. Er sah mich entsetzt an, als begriffe er, dass er zu viel gesagt hatte.
»Ich bin ja auch der Meinung, dass die Umkehrbarkeit der Wahrheit nicht der klügste Gedanke ist«, sagte ich und erhob mich. »Ich gehe jetzt schlafen. Es war ein langer Tag.«
»Und wenn ich die Nacht hier verbrächte ...?«, fragte Tarai zaghaft.
»Wie du willst.«
Ich berührte die Tür, und sie öffnete sich. Es war dunkel, nur eine einzige Lampe brannte. Konnte man das Licht selbst regulieren, oder wurde es automatisch abgeschaltet? In der Baracke herrschte völlige Stille, nur draußen pfiff der Wind. Entweder schliefen alle oder sie taten so, als ob.
»Agard, du scheinst kein schlechter Mensch zu sein«, sagte ich leise. »Wie hast du es geschafft, hier zu überleben?«
Als er schwieg, brachte ich die Tür mit einer Berührung dazu, sich zu schließen.
»Ich bin ein Plappervogel, Nik«, sagte Agard da. »Ein Geschichtenerzähler. Die Abende sind lang, das Leben langweilig. Und ich erinnere mich an vieles aus den früheren Zeitaltern. Und noch mehr kann ich mir ausdenken.« Agard zwinkerte mir zu: »Allerlei Unsinn ... aber was kann man von einem kranken Historiker schon verlangen?«