Jetzt, da ich nicht mehr er bin, kenne ich ihn viel besser als zuvor. Den Regressor und Poeten Nik Rimer ...
Gegen meinen Willen eingestellt in der Ideenfabrik boykottiere ich die Stechuhr. Gegen meinen Willen eingezogen desertiere ich.
Das stimmt nicht, Niki, du hast dich geduckt. Du konntest weder boykottieren noch desertieren. Du hast Freunde nach dem Vorbild und in Analogie zu deiner Rasse geformt. Deiner mächtigen und unglücklichen Heimat. Und nur in der Stille deines Schiffs, in der Leere der Kabine, hast du dir die Worte gestattet, die du sagen wolltest.
Große Dinge habe ich nie begriffen
Große Dinge gibt es nicht
kleine auch nicht
Sondern nur andere
Andere Dinge
nämlich zu lieben wen ich will
und zu machen was ich will.
Nik Rimer, ich habe mich nicht geschämt, deinen Namen zu tragen. Doch es war ein wenig niederträchtig.
Denn ich bin ein anderer.
Und ich muss mein eigenes Schicksal finden.
Ich weiß nicht, was die Ethik des Konklave und der Geometer ersetzen kann.
Ich weiß nicht, was stärker als Effizienz und Liebe ist. Wenn der Verstand und das Herz zum selben Schluss kommen, was soll man ihnen dann noch entgegensetzen?
Noch weiß ich es nicht.
Mein angenommener Großvater, Andrej Chrumow, du wolltest, dass ich zum Maß aller Dinge werde. Zu meinem eigenen Maßstab.
Ich werde es versuchen.
Zwei
Der Morgen begann mit Sirenengeheul.
Ein langgezogener Ton drang von draußen herein, von der weißen Wüste, die rund ums Sanatorium lag. Die Fenster wurden durchscheinend, trübes Licht ergoss sich in die Baracke. Vor der unteren Hälfte der Scheiben türmten sich Schneewehen, an der oberen klebte eine feste Schneekruste.
Niemand hatte in der Nacht versucht, mich umzubringen. Immerhin ein gutes Zeichen.
Ich schälte mich aus der Decke und zog mich an. Anscheinend schnell, aber alle anderen waren noch weitaus schneller als ich. An der Tür zur Sanitäreinheit hatte sich eine kleine Schlange gebildet, es ging jedoch niemand hinein.
Was sollte das? Gewährte man mir etwa das Recht, in stolzer Einsamkeit zu pinkeln?
»Worauf wartet ihr?«, erkundigte ich mich freundlich, während ich mich den dicht zusammenstehenden Gefangenen näherte.
»Nik, du musst die Arbeit des Sanitärkontrolleurs erledigen«, erklärte Tarai. Er hatte sich inzwischen als meine rechte Hand etabliert, als Vermittler bei den Gesprächen. Die anderen versuchten, meinem Blick auszuweichen. Die drei, die gestern Kley zu Hilfe geeilt waren, hielten sich obendrein auch noch abseits. Nur der blonde Geliebte Harters traute sich, mir mit gesenktem Kopf einen Blick voller Hass zuzuwerfen. Wo steckte eigentlich der entthronte Boss?
»War der Sanitärkontrolleur bisher Kley?«
»Ja, Nik.«
Schweigend ging ich in die Sanitäreinheit.
Kley Harter stand an den Klos und schrubbte mit einer langen Bürste methodisch das weiße Plastik. Es roch nach Chlor. Na so was! Hatten sie also die gleichen Methoden der Desinfizierung wie wir.
»Die Sanitäreinheit ist gesäubert«, sagte er mit gelassener, durch keine Emotionen gefärbte Stimme.
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte ich.
Kleys linker Arm steckte nach wie vor in dem straffen, durchscheinenden Verband, wie ich jedoch erleichtert registrierte, benutzte er ihn fast uneingeschränkt.
Gäbe es solche Medizin doch auf der Erde!
»Nik Rimer, ich will mit dir reden«, sagte Kley, der sich immer noch nicht zu mir umgedreht hatte.
»Nur zu.«
»Inoffiziell.«
»Habe ich etwas anderes verlangt? Fang an, aber beeil dich, hier wollen noch mehr Leute rein.«
Kley öffnete einen unscheinbaren Schrank in der Wand. Er warf die Bürste in ein Becken mit irgendeiner Lösung. Dann drehte er sich mir zu.
»Wer bist du?«
»Ich habe mich bereits vorgestellt.«
»Du bist kein Regressor«, behauptete er überzeugt. »Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch. Aber ich war ein guter Ausbilder. Du bist nicht derjenige, für den du dich ausgibst.«
Genau das hatte mir jetzt noch gefehlt!
»Ich werde nicht versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich bin Nik Rimer. Mir gefallen die Zustände in diesem Sanatorium nicht. Das habe ich gestern bereits in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Das ist alles.«
»Es gibt hier zehn Gebäude«, erwiderte Kley leise. »Ich werde dir nicht vorlügen, alle Barackenältesten würden mich lieben. Aber ein derart freches Verhalten werden auch sie nicht durchgehen lassen.«
»Pech für sie.«
Mehrere Sekunden spießte er mich mit seinem Blick auf, bis sich die Härte in ihm verlor.
»Schon möglich ... Keine Ahnung, wie und warum, aber du könntest allein hier die ganze Macht an dich reißen. Glaube ich jedenfalls ...«
»Was sind das für seltsame Reden für einen ehemaligen Ausbilder?«, fragte ich. »Welche Macht? Es sind doch alle gleich!« Ich trat an das funkelnde Klo heran und knöpfte mir die Hosen auf. »Es stört dich doch nicht, wenn ich schon mal mein Geschäft verrichte? Das macht dich doch nicht verlegen? Und erregt dich auch nicht?«
»Du Idiot«, ließ Kley verächtlich fallen. »Unser Essen enthält keine Tranquilizer. Lass ein, zwei Wochen vergehen, dann kommen auch dir komische Gedanken in den Sinn.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich so lange hier aufzuhalten«, bemerkte ich beiläufig, nachdem ich seine Worte einer Blitzanalyse unterzogen hatte. So schafften sie das also. Mit Tranquilizern. Die Medizin hatte sich in den Dienst des Fortschritts gestellt. Wozu Energie für Sex vergeuden, wenn ihn Freundschaft und Arbeit ersetzen können?
»Und das erzählst du mir?«, fragte Kley lachend. »Deinem Nicht-Freund? Du erzählst mir, dass du die Absicht hast, dich über die Entscheidung der Ausbilder hinwegzusetzen und das Sanatorium zu verlassen?«
»Ja. Und jetzt sag, wagst du es, das weiterzuerzählen?«
Er bekam einen weiteren Lachanfall. Bis er dann abrupt verstummte. »Woher kennst du eigentlich unsere Gesetze?«
»Diese Gesetze sind überall gleich.«
»Du bist doch ein Regressor ... hast bei den Fernen Freunden gearbeitet ... die nicht zu unseren Freunden wurden ... Ja doch. Ich werde dich nicht verpfeifen, Nik Rimer. Aber es ist sowieso unmöglich. Die nächste Inspektion erfolgt erst in einem Monat. Bis dahin sind wir von der Außenwelt abgeschnitten.«
»Hervorragend.« Ich ging zum Waschbecken.
»Nik, falls du es noch nicht begriffen hast ... das Sanatorium ist umgeben von einer Siedlung der Wendigen Freunde. Sie helfen uns bei der Heilung. Und sie passen auf, dass wir uns an die Regeln halten.«
»Und was soll an diesen Blutegeln schrecklich sein?«, fragte ich.
»Es gibt Momente, da glaube ich, dass du überhaupt nicht unter Amnesie leidest«, meinte er kopfschüttelnd. »Und dann lieferst du mir wieder einen Beweis, dass du dein Gedächtnis verloren hast ... Du hast dir die Antwort doch schon selbst gegeben! Was stand am Anfang der Kontaktaufnahme mit den Wendigen Freunden, Regressor Nik?«
Das Wissen Nik Rimers, sein Bewusstsein, das sich in seinen Worten manifestierte, reagierte schneller als ich.
»Der Äußere Planet. Dünne Luft. Sand. Kälte. Grundwasserseen. Blutegel. Opfer. Razzien. Hinweise auf eine Zivilisation. Regression. Erziehung. Freundschaft ...«
Kley Harter verblüffte diese Wortlawine genauso wie mich selbst.
»Als ob du dich auf eine Prüfung vorbereitet hättest ...«, sagte er.
»Vielleicht habe ich das ja. Also, womit willst du mir Angst machen? Die Wendigen sind unsere Freunde.«