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»Die Wendigen sind die Freunde der Menschen. Aber wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Kranke. Wir werden behandelt. Das Verlassen des Sanatoriumsgeländes bedeutet den vollständigen Verlust des Verstands. Den Ausschluss aus der Kategorie der Menschen. Beim ersten Mal wird dir noch verziehen, Rimer. Frag nur mal deinen Kumpel, wie das ist. Beim zweiten Fluchtversuch wirst du einfach ausgelöscht.«

Schweigend ließ ich mir das Gesagte durch den Kopf gehen. Ich zapfte mir etwas Flüssigseife aus dem Spender über dem Waschbecken. »Dann wird es eben keinen zweiten Fluchtversuch geben.«

»Ich hätte mich gestern Abend nicht mit dir anzulegen brauchen«, bemerkte Kley. »Ich hätte einfach abwarten sollen. Lange kannst du dich hier nicht halten.«

»Ich glaube, es ist Zeit, die Sanitäreinheit wieder freizugeben«, bemerkte ich.

»Nik! Ich wollte ... ich wollte dich um etwas bitten.«

»Na los.«

»Ich möchte heute zur Arbeit gehen.«

»Wieso? Du bist krank.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den verbundenen Arm.

»Ich mache mir Sorgen um ... Tik.«

»Ist das der Blonde?«

»Ja. Ich mache mir Sorgen, dass er eine Dummheit anstellt.«

»Du bleibst trotzdem ein Schwein«, sagte ich. »Aber gut. Arbeite, mir ist das egal.«

Die Menschen vor der Tür begrüßten mein Auftauchen unisono mit einem Seufzer der Erleichterung.

»Es ist frei«, sagte ich.

Alle drängten sich zugleich zur Tür. Selbst die drei treuen Gefolgsleute Kleys. Sogar der arme Tik. Und auch mein neuer Freund Agard. Und auf allen Gesichtern stand Erleichterung und Dankbarkeit geschrieben.

Wie simpel es ist, gut zu sein!

Man muss den Menschen nur vorübergehend ein primitives, aber unvermeidliches Bedürfnis verweigern -und es ihnen dann mit einer gönnerhaften Geste wieder gestatten.

Dafür wird man prompt ehrlich und aufrichtig geliebt.

Nach dem Frühstück zog ich mich um. Tarai brachte mir Kleidung, ähnlich der, die er selbst trug. Eine Wattejacke, um die sich sämtliche KZ-Insassen auf der Erde gerissen hätten, ein recht leichtes und sehr warmes Ding. Dicke, abgesteppte Hosen. Grobe Schuhe, Socken, Handschuhe ...

Zumindest unter der Kälte mussten die Patienten des Sanatoriums nicht leiden.

Von meinem grauen Anzug trennte ich mich leichten Herzens. Er hatte nicht mir gehört, sondern Nik Rimer, der nicht mehr unter den Lebenden weilte.

»Worin besteht unsere Arbeit?«, wollte ich von Agard wissen.

»Wir begradigen den Strand.«

Er stand neben mir und beobachtete, wie ich mich mit der Uniform abmühte. Mehrmals half er mir, mit den ungewohnten Verschlüssen zurechtzukommen. Ihre Kleidung wurde fast ausschließlich geknöpft, zum Reißverschluss hatten sie es anscheinend nicht gebracht, aber die Magnetnähte verwirrten mich anfangs.

»Warum müssen wir ihn begradigen?«

»Seit dem Meereszeitalter«, erklärte Agard seufzend, »also seit die Uferlinien korrigiert wurden und unser Kontinent eine wirklich runde Form erhielt, unterspülen die Wellen das Ufer ...«

»Und wir bessern es dann mit Spaten wieder aus?«

»Ja.«

Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn. Arbeit um der Arbeit willen.

Aber welche Beschäftigung sollte man sonst für Schwerverbrecher in einer hochautomatisierten Welt finden? Ihnen Technik an die Hand zu geben war viel zu riskant. Aber sie ohne Arbeit zu lassen - das verstieße gegen jede Regel.

»Das Sanatorium wechselt in regelmäßigen Abständen seinen Standort«, fuhr Agard fort. »Die Arbeitszone erstreckt sich über etwa zehn Kilometer. Alle zwei Wochen zieht der Frische Wind ein Stück das Ufer entlang.«

»Und so ist es überall?«

»Das weiß ich nicht. In den Zonen mit warmem Klima vermutlich nicht. Dort gibt es viele Internate, Städte, da findet sich immer jemand, der sich um das Ufer kümmert.«

»Wozu ist das gut, Agard?«

»Soll ich dir einen Vortrag halten oder einfach so antworten?«, fragte Agard mit verschlagenem Grinsen.

»Einfach so.«

»Ich weiß es nicht.«

Es herrschten fünfzehn Grad Kälte, um es einmal in Celsiuswerten auszudrücken. Die Geometer gingen von der Temperatur eines gesunden menschlichen Körpers aus, denn sie nahmen den Gedanken, der Mensch sei das Maß aller Dinge, absolut ernst. Mir gefiel das Herangehen des schwedischen Physikers aber besser. Wir sollten uns über unsere Rolle im Universum keinen Illusionen hingeben. Wasser ist älter als Fleisch. Der Himmel hatte sich seit dem Morgen aufgehellt, nur überm Horizont lag noch fahler Rauch. Der Schnee, makellos sauber und blendend weiß, wie man ihn auf der Erde nur in den Bergen sieht, bedeckte alles, so weit das Auge reichte. Die schwarzen, gitterartigen Silhouetten der Wachtürme steckten den Rand des Sanatoriumsgeländes klar ab. Auf der einen Seite fehlten sie allerdings, dort ging der Schnee gleichmäßig und nahezu unmerklich erst in Eismatsch, dann in das hundekalte Wasser des Meers über. Aus der Ferne wirkte das Wasser weiß und dick wie Milch.

Ob es den Wendigen Freunden hier tatsächlich gefiel? Soweit ich mich erinnerte, entsprach der Äußere Planet, ihre Heimat, von seinen Lebensbedingungen her dem Mars. Dort hatten sie es allerdings vorgezogen, in unterirdischen Seen zu leben und jede Kälte so gut es ging zu meiden ...

Aus den Nachbarbaracken tröpfelten die ersten Leute. Genau wie wir waren sie in warme Kleidung gehüllt und mit Spaten und Brecheisen bewaffnet. Ich musterte sie unauffällig, wobei es mir vor allem darauf ankam, ihre Anführer zu identifizieren. Die Aufgabe stellte sich als überraschend leicht heraus. Sie trugen die gleichen Sachen, hatten ebenfalls Spaten in der Hand, aber ... Wölfe behalten auch in Schafspelzen ihre Manieren bei.

Kley sonderte sich von unserer Gruppe ab und lief schnurstracks zu den anderen.

»Du musst ihn aufhalten, Nik«, raunte Agard hinter mir. »Sieh zu, noch vor Kley mit den Barackenältesten zu sprechen. Überzeug sie, dass du ihnen ihren Rang nicht streitig machen willst ...«

»Er hetzt sie nicht gegen mich auf. Im Gegenteil, er bittet sie abzuwarten.«

Agard glaubte mir wahrscheinlich nicht. Trotzdem sagte er keinen Ton.

Die verletzte Hand an die Brust gepresst, sprach Harter mit einem kleinen, fast liliputanerhaften Mann. Ob es sich bei ihm um ein Opfer jener weit zurückliegenden Experimente zur Züchtung kleinwüchsiger Regressoren handelte? Um die beiden scharten sich weitere Männer.

Schweigend beobachtete ich das Treffen der Bosse. Zehn Mann, Kley eingeschlossen. Mit Sicherheit würden sie treue Handlanger finden.

Wie ist es um meine Kampffähigkeit bestellt, Cualcua? Wie viel Männer können wir ausschalten?

Viele. Soll die Kampftransformation erfolgen?

Warte noch.

Kley kam zurück. Er hielt auf mich zu, ich wartete geduldig.

»Nik Rimer, wir arbeiten heute im ersten Ufersektor«, teilte er mir ruhig, ja, sogar höflich mit. »Wenn es genehm ist, zeige ich dir den Weg.«

»Gut«, willigte ich ein.

Kley ging vor. Die Gefangenen folgten uns, mal mich ansehend, mal ihn.

Alle Achtung, das hatte er gut eingefädelt. Die Situation gewann eine gewisse Doppeldeutigkeit. Es war nicht mehr klar, wer hier eigentlich der Anführer war. Gestern Abend schien ich diesen behaglichen Posten innegehabt zu haben, aber heute führte Kley die Gruppe wie gehabt zur Arbeit und sprach mit allen anderen. Wenn ich von hier verschwände, würde Kley seine Macht problemlos zurückgewinnen.

Sollte er. Ich hatte nicht die Absicht, lange hierzubleiben. In einem einzelnen Konzentrationslager für Ordnung zu sorgen und die lichte Zukunft aufzubauen - das war nicht meine Mission.

»Pjotr, vergiss nie, dass du nicht einer Landetruppe angehörst. Du sollst ihre Welt nicht umkrempeln ... allein schon, weil das unmöglich wäre. Du bist ein Späher. Verstehe ihre Welt. Verschaff dir ein Bild über ihre technische Stärke. Finde die Berührungspunkte und die Wege für Kompromisse heraus. Und dann komm zurück. Versuch ein Schiff zu kapern und komm zurück. Das Geschwader wird einen Monat lang auf dich warten.«