»Und danach? Wenn ich nicht zurückkehre?«
»Dann holen wir dich. Die Alari wollen die Wolchw modernisieren. Wir bekommen anständige Triebwerke, Generatoren für den Schutzschild und Waffen. Wir werden versuchen, in die Welt der Geometer vorzudringen und dich zu finden ...«
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Frischer, lockerer Schnee mit einer hauchdünnen Harschkruste. Ganz bewusst mied ich die Spuren der anderen. Als ob ich mir den Vorteil nicht zunutze machen wollte.
Jede Nacht fiel hier Schnee. Er bildete eine Decke, verbarg alle Spuren. Tagsüber schmolz er, um nachts abermals den Boden zu überziehen. Der frische Wind pfiff über die frostige Tundra, die Wendigen Freunde achteten auf die Ordnung, die Gefangenen wurden therapiert.
Niemand hatte es sich jedoch zum Ziel gesetzt, ihre Fehler - die echten und die eingebildeten - wegzuerziehen. Man isolierte sie lediglich, schuf eine Müllhalde am Rande der Welt. Weitaus schlimmer wäre es jedoch, wenn es einen solchen menschlichen Schrottplatz nicht gäbe, wenn der gesamte Planet der Geometer steril-glücklich wäre. Aber glücklicher- oder unglücklicherweise war dergleichen unmöglich ...
Langsam näherten wir uns den schwarzen Hochständen. Der äußerste stand schon im Wasser. Das Branden der Wellen war nun zu hören, ein grollendes, gleichmäßiges Geräusch. Eismatsch staute sich am Ufer, auch ganze Eisschollen trieben an. Eine schlug gerade gegen das Gerüst des Hochstands, in einem methodischen und erfolglosen Kampf gegen das Metall. Der Stand erinnerte eher an den Mast für eine Hochspannungsleitung, nur dass statt der Isolatoren an der Spitze ein weißes, schneebedecktes Nest thronte, das aus faserartigem Material wie Algen oder Schnüren gefertigt war. Ein kleines Nest, in das ein Wendiger allerdings bequem hineinpasste.
»Sind sie auf Posten?«, fragte ich Agard, wobei ich mit dem Kopf Richtung Hochstand deutete.
»Sie sind immer auf Posten.«
»Wie nehmen die Wendigen die Welt wahr? Mit den Augen? Dem Gehör?«
»In erster Linie durch Vibrationen. Sie nehmen das Geräusch des Auftretens wahr.« Agard verstummte. Dann packte er mich bei der Schulter: »Hör mal, Nik!«
»Was?«
»Komm ja nicht auf dumme Gedanken!« Er zog seine Mütze vom Kopf und demonstrierte mir seinen grindigen Schädel. »Siehst du das? Da hat mich ein Wendiger geküsst. Er hat seine Mundfläche über meinen Kopf gestülpt. Ihr Speichel ist extrem ätzend, Nik.«
»Wie schnell bewegen sie sich?«
Tarai schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Wach auf, Junge! Ich bitte dich, komm zur Besinnung!« Der ehemalige Historiker wirkte zu Tode erschrocken. »Wir werden hier einiges ändern. Gestern konnte ich lange nicht einschlafen, da habe ich über alles nachgedacht. Die ganze Idee mit dem Sanatorium ist pervers, aber du hast Kraft, du besitzt einen moralischen Rückhalt! Deshalb können wir alles von Grund auf ändern! Das würde uns nicht nur helfen zu überleben, das würde unser Schicksal in eine neue Bahn lenken! Die Inspektoren werden den positiven Effekt erkennen, sämtliche Entscheidungen und Urteile werden überdacht. Lass ein, zwei Jahre vergehen, dann werden wir in ein anderes Sanatorium gebracht, mit nicht ganz so harten Bedingungen. Es hat schon Präzedenzfälle gegeben! Und am Ende, wer weiß ...«
Er tat mir leid. Sehr leid. Vielleicht glaubte er gar nicht unbedingt an seine Worte, aber ich verstand sehr gut, wie angenehm es gestern Abend für Tarai gewesen sein musste, sich seinen Träumen zu überlassen, bei einem Becher Schnaps, entzückt, vom Possenreißer zum Berater aufgestiegen zu sein.
Ohne mich wird er kaputtgehen. Kley wird ihm das Leben zur Hölle machen.
Also würde ich Tarai mitnehmen müssen ... noch ein Problem mehr ...
»Wie schnell sind die Wendigen ...«
»Viel schneller als ein Mensch! Und sie sind nahezu unermüdlich, außerdem sind die Bedingungen hier optimal für sie.«
»Mach dir keine Sorgen, Agard«, bat ich. »Ich lasse dich nicht im Stich. Wir fliehen zusammen.«
Entsetzt starrte er auf den Hochstand. Ob die Wendigen in der Lage waren, unsere Worte zu verstehen, sie aus den Vibrationen der Schritte und dem Branden der Wellen herauszufiltern?
»Ich habe nicht die Absicht, unüberlegt zu handeln«, versicherte ich. »Warten wir noch ein bisschen und sehen ... was sich ergibt ...«
Das schien ihn ein wenig zu beruhigen. »Überstürze nichts, Nik«, bat er. »Versprichst du mir das?«
»Ja.«
Ich sagte die Wahrheit. Ich glaubte in dieser Minute selbst daran.
Man kann einfach nie alles einkalkulieren.
Die Arbeit war schwer, sinnlos und verlangte absolut keinen Gehirneinsatz. Eine typische Arbeit für Gefangene. Einen halben Kilometer von uns entfernt schuftete eine andere Gruppe, noch weiter weg die nächste. Dunkle Flecken im Schnee, Menschen, die sich an der Brandungslinie abmühten und Steine zum Wasser schleppten.
Zunächst fanden wir drei Punkte, wo die Wellen und das Eis das Ufer weggespült hatten. In Zweierpaaren fingen wir an, die Steine, die wir unter dem Schnee freigelegt hatten, ans Ufer zu tragen. Wir setzten sie ins zischende Wasser und bedeckten sie mit Kieseln und Sand.
Das war Wahnsinn. Eine Sisyphusarbeit.
»Bald gibt es Mittag«, flüsterte Agard schwer atmend. »Du wirst sehen, es tut gut, etwas Heißes zwischen die Zähne zu kriegen ...«
Zum Mittagessen mussten wir in die Baracken zurück. Eine weitere ärgerliche Idiotie. Warum müssen wir durch den Schnee hin und zurück stapfen? Warum konnten wir nicht morgens Thermoskannen oder Heizgeräte mitnehmen?
Wahrscheinlich lag darin ein geheimer höherer Sinn der Arbeitstherapie, der sich mir nicht erschloss.
»Gibt es außer den Wendigen noch andere Wachtposten?«, fragte ich, während ich eine weitere Schaufel von diesem frostigen Matsch ins Wasser warf.
»Wer käme denn da überhaupt noch in Frage? Die Kleinen Freunde? Die würden hier sofort krepieren ...«
Dass auch Menschen die Aufgabe von Aufpassern übernehmen könnten, war für ihn undenkbar.
Nur gut.
Cualcua, ist es möglich, einen Wendigen zu töten?
Man kann jedes Lebewesen töten.
Ohne Waffe?
Darüber habe ich nicht genügend Informationen.
Ich schaufelte weiter, als ein schwaches Stimmchen in meinem Bewusstsein zu zischeln anfing. Zum ersten Mal wandte sich der Cualcua von sich aus mit einer Frage an mich: Pjotr, kannst du den Mord an einem Wendigen vor dir eher vertreten als den an einem Geometer?
Sicherlich.
Danke.
Ich wollte ihn nicht anlügen. Aber ist es überhaupt möglich, ein Wesen anzulügen, das in deinem Körper lebt und deine Gedanken liest?
Wie auch immer, jedenfalls war ich froh, dass es keine menschlichen Aufpasser gab ...
Als vom Hochstand ein Geräusch herüberdrang, stellte ich die Arbeit ein. Ich rammte den Spaten in den überfrorenen Sand und schaute zum Turm hinüber. Die anderen folgten meinem Beispiel.
Die Wände des Nests taten sich auf, ein langer, graublauer Körper kam zum Vorschein. Der Wendige ließ einen Teil von sich nach unten baumeln, schaukelte in einer Höhe von zehn Metern ein wenig hin und her und schwenkte das eine Ende seines Körpers in verschiedene Richtungen. Dann löste er sich und fiel mit leichtem Platschen ins Wasser.