Drei
Den Abend erlebte ich auf einer Eisscholle, rund zwanzig Kilometer vom Sanatorium und einen halben Kilometer vom Ufer entfernt. Völlig nackt saß ich da, die Kleidung unter mich gestopft Die Kälte spürte ich nach wie vor nicht, aber so war es irgendwie beruhigender.
Was für ein seltsames Gefühl. Die Geschehnisse kamen mir absolut irreal vor. Die Wunde in der Seite war fast verheilt, es kitzelte nur leicht, wenn ich die neue, rosafarbene Haut berührte. Um mich herum milchig trübes Wasser, Eis, ein farbloser Himmel. Wie auf den Bildern von Rockwell Kent. An einer solchen Landschaft kann man sich jedoch nur dann erfreuen, wenn man zu Hause sitzt, im Warmen. Oder wenn man wenigstens nicht das Schmelzen der Schneeflocken auf der eigenen nackten Haut beobachten muss.
Der Cualcua schützte mich sicherer gegen die Kälte als jeder Pelz. Das brachte allerdings Nebenwirkungen mit sich.
Seufzend hob ich einen frisch gefangenen Fisch vom Eis. Dann würde ich mich mal auf eine Stufe mit den Wendigen stellen ...
Äußerlich ähnelte der Fisch einem Rotbarsch. Rötliche Schuppen, die ein halbes Kilo Fleisch bedeckten.
Ich riss ihm die Flossen ab und machte mich ans Abendbrot. Das rohe Fleisch schmeckte mir nicht, war andererseits aber auch nicht so unangenehm, wie ich befürchtet hatte. Danilow müsste jetzt hier sein, von ihm hieß es ja, er liebe die japanische Küche ...
Irgendwo in meinem Magen bekam der Cualcua seine Portion an Nahrung. Ich selbst hätte es vorgezogen zu hungern, aber mein Symbiont vertrat nach einem sechsstündigen Kampf gegen die Kälte eine andere Ansicht.
Mehr.
»Das war alles«, sagte ich, während ich die jämmerlichen Fischreste wegwarf.
Nein.
»Ich kann nicht mehr.«
Ich kann noch.
Ich legte die Hand auf den Fisch und drehte mich weg. Meine Finger zitterten leicht, aber ich wollte nicht sehen, was da jetzt an meiner Hand passierte.
Jetzt war es alles.
Auf dem Eis lag nur noch ein Fischschwanz. Ich schluckte und kämpfte gegen Würgereiz an. Was die Natur geschaffen hat, ist nicht eklig. Ich schnippte den Schwanz ins Wasser und betrachtete meine Hand. Ich konnte nichts Verdächtiges daran entdecken. Ob der Fisch auch verspeist worden wäre, wenn ich meinen Fuß auf ihn gelegt hätte?
Vermutlich schon.
Ich klaubte eine Handvoll Schnee vom Eis und spülte mein feierliches Mahl runter.
»Was tun wir als Nächstes, Cualcua?«
Ich treffe keine Entscheidungen und gebe keine Ratschläge.
Vielleicht war es ja besser so. Ansonsten würde ich nicht einmal merken, wie ich zu einer wandelnden Behausung für einen fremden Verstand wurde. Der Cualcua musste sich nur um eins kümmern, nämlich mein Überleben sichern. Und das machte er hervorragend. Ich könnte vermutlich den Rest meines Lebens damit zubringen, Fische zu jagen und mich im Schnee zu sonnen.
Wie ich eine Anwendung für das mir geschenkte Leben fand, war mein Problem.
Gut, aber jetzt durfte ich nicht die Nerven verlieren. Wie unwirtlich diese Schneewüste auch anmutete, in ihr musste es Leben geben. Ich konnte mich von allem Möglichen ernähren, obwohl ... stopp, darüber brauchte ich nicht nachzudenken. Schließlich war das hier der Runde Kontinent, auf dem sich die Stadt Dienen befand, die Kosmodrome, die gemütlichen warmen Häuser, die Bergwerke und Fabriken, Wälder und Felder. Ich brauchte mich also nur zu ihnen durchzuschlagen.
»Wir schwimmen ans Ufer«, sagte ich.
Gut. Unterwegs fangen wir Fische.
Ich schluckte.
Schon gut. Meckern nützte nichts.
»Das machen wir«, willigte ich ein.
Die ganze Nacht ging ich am Ufer entlang. Vielleicht trug daran der Cualcua die Schuld, vielleicht spielten aber auch meine Nerven verrückt - jedenfalls fand ich keinen Schlaf. Es schneite, sanft und leicht, ab und zu musste ich mir das steif gefrorene Hemd weichklopfen. Durch meinen Körper liefen immer wieder kurze Krämpfe, und Eisklumpen fielen von meiner Haut ab. Es war dunkel ... Der Planet der Geometer hatte keinen natürlichen Satelliten, und der wundersame Sternenhimmel, der die Navigation verhindert, es jedoch erlaubt hatte, nachts zu arbeiten, war irgendwo weit, weit weg geblieben ...
Ihr seid also geflohen, Geometer. Ihr habt euch vor denjenigen versteckt, denen ihr eure Freundschaft aufpfropfen wolltet. Ihr habt euer ganzes System irgendwo anders hingebracht, zusammen mit eurer Sonne, Dem Mütterchen, zusammen mit den Planeten der Kleinen und der Wendigen Freunde. Doch selbst danach habt ihr nicht klein beigegeben. Denn der Wunsch, Gutes zu schaffen, lässt sich nicht auslöschen.
Aber warum, warum nimmt er immer diese Formen an?
Wir hätten diesen Weg ja auch gehen können. Hätte er uns dann ebenfalls zu einem rationalen, korrekten und zugleich falschen Paradies geführt? Alles um mich herum war mir ja vertraut. Alles passte ins Repertoire der utopischen Träume über die Zukunft. Pieksaubere Städte, eine freiwillig gewählte Askese im Leben, Ausbilder, die Generation um Generation weise zum Glück führen, Freundschaft mit anderen Rassen - all das gehörte auch zu unserem Traum.
Wäre dann auch bei uns alles auf dieses Ende hinausgelaufen? Auf ein Netz aus Lagern für die Abfälle, auf bis an die Zähne bewaffnete friedliche Schiffe, unanfechtbare Autoritäten im Weltrat und jene gegenseitige Verantwortung, die Niks Freunde gezwungen hatte, ihn ins Sanatorium zu eskortieren? Oder hatten die Geometer einfach einen Fehler gemacht, waren sie vom Weg abgekommen, hatten sie irgendwann irgendwo ihre eigenen Prinzipien verletzt? Zum Beispiel, als sie - da war ich mir ganz sicher - einen bakteriologischen Krieg im Mittelalter entfacht und die Armeen der Feudalherren niedergemäht hatten, um dann, indem sie der Welt eine Medizin gegen die Pest schenkten, friedlich und unwiderruflich die Macht zu übernehmen. Um die Stelle der Heiligen einzunehmen. Sicher hatten früher bei den Geometern bestimmte Kulte existiert, Glaubensvorstellungen ...
Oder gab es womöglich keinen anderen Weg? Gab es nur den offenen Zynismus des Konklave oder den schön verpackten Zynismus der Geometer?
Triff eine Wahl, Pjotr Chrumow. Triff eine Wahl, Planet Erde. Auf wessen Seite stellst du dich, wenn die Idee der Freundschaft auf das Gesetzbuch des Konklave trifft?
Zwei Kräfte. Wie sehr hattest du auf diese Konstellation gehofft, Großpapa. Aber wird es dir wirklich gelingen, einen Vorteil daraus zu ziehen? Oder vernichtet das Konklave uns als möglichen Verbündeten der Geometer? Oder werfen uns die Geometer kurzerhand und in gewohnter Manier ins Mittelalter zurück, um uns ihre eigene Ethik aufzupfropfen?
Müßig, darüber zu spekulieren ... Könnten denn die Geometer in einem Kampf gegen das Konklave überhaupt bestehen? Gegen die Kampfschiffe der Alari, gegen die Plasmawesen der Rasse der Torpp, die nicht viele Angehörige zählt, aber in den Sternenkoronen leben kann? Gegen die unzähligen Heerscharen der Hyxoiden und gegen die Daenlo? Gegen die ungeheure Intelligenz der Zähler?
Pah! Natürlich könnten sie. Selbst wenn ihr System lediglich aus drei bewohnten Planeten besteht. Sie sind klug. Ihre Technologie - nicht die augenfällige, sondern dir richtige, verkörpert in Schiffen und Transportkabinen - ist hocheffizient. Und das Wichtigste: Ihre Gesellschaft ist absolut monolithisch. Freilich, es gibt die Lager, aber die stehen halb leer. Ein, zwei Prozent Oppositionelle, das ist nichts. Und selbst diese unglücklichen, mit einer sinnlosen Arbeit beschäftigten Gefangenen sind der Heimat noch treu ergeben. Nicht eine Sekunde würden sie zögern, den Spaten gegen die Waffe einzutauschen.
Mit Gewalt ließe sich die Zivilisation der Geometer nicht bezwingen. Schließlich ist ihr gesamtes Planetensystem ein einziges Raumschiff, imstande zu manövrieren, der Verfolgung zu entkommen und anzugreifen. Die Prinzipien ihrer Fortbewegung im Raum sind uns unbekannt, aber sie sind allem überlegen, was dem Konklave zur Verfügung steht. Welch monströse Kraft die Starken Rassen auch gegen die Geometer aufbringen mochten, diese würden entkommen. Und dann würden sie zurückkehren, denn diese Rasse ist - genau wie die Menschen -außerstande, einen Schritt zurückzugehen. Sie würden Regressoren für die Arbeit auf der Erde züchten, Regressoren, die in die Haut der Zähler schlüpften, sowie Regressoren, die den Hyxoiden glichen.