Hin und wieder warf er einen Blick in den Abgrund neben seinen Füßen. Obgleich die Welt unter ihnen längst zu einer Miniaturlandschaft geworden war, die sich als weißbrauner Flickenteppich bis zum Horizont erstreckte, schienen sie dem Gebirgskamm nicht nennenswert näher zu kommen, so sehr sie sich auch abplagten. Falk gab sich alle Mühe, seinen düsteren Gedanken nicht nachzugeben, trotzdem begann er irgendwann, den Mut zu verlieren, und je größer das Loch in seinem Bauch wurde, desto häufiger stellte er sich im Stillen die Frage, wie er jemals so dämlich hatte sein können, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war, musste er zugeben, dass der wahre Grund für seine Entscheidung alles andere als ehrenhaft war.
Es war das Verlangen nach Anerkennung.
Er wollte ein Held sein. So wie Zara und Jael, die taten, was getan werden musste. Ohne Furcht, ohne Zögern, geradlinig und unerschrocken. Er wollte, dass die Menschen zu ihm aufsahen und respektvoll seinen Namen nannten. Er wollte den feigen, rückgratlosen Lügner und Falschspieler, der er war, ein für alle Mal hinter sich lassen und als neuer, besserer Mann ein neues, besseres Leben beginnen.
Doch auch, wenn ein Spatz seine Flügel ausbreitet und sich wünscht, ein Adler zu sein, bleibt er am Ende doch nur ein Spatz.
Widerwillig kam Falk zu dem Schluss, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Er hatte hier nichts verloren – er sollte überhaupt nicht hier sein!
Und dann, gegen Abend des vierten Tages, wollte der Berg seinen Tribut...
Die Sonne versank als majestätischer Feuerball, und die Dunkelheit fiel über das Land, als sie eine Stelle erreichten, an der der Pfad so schmal wurde, dass sich die Pferde zunächst scheuten, weiterzugehen. Schließlich aber gab Kjell Zaras Drängen nach und folgte seiner Herrin zögernd den Sims entlang, immer behutsam einen Huf vor den anderen setzend. Nun trauten sich auch die anderen Tiere weiter, von Falk und Jael an den Zügeln geführt. Es ging weiter – wenn auch nur für kurze Zeit, denn plötzlich blieb Zara vorn am Kopf der kleinen Karawane stehen und wandte sich mit besorgter Miene zu Falk um.
„Runter!“, zischte sie.
Falk verstand nicht. „Wie – runter? Sollen wir den ganzen Weg etwa wieder nach unten steigen?“ Dieser Gedanke kam ihm in höchstem Maße absurd vor, so weit wie sie bereits gekommen waren, auch wenn er selbst in den letzten Stunden schon mehr als einmal daran gedacht hatte, genau dies zu tun. Aber das behielt er für sich. „Also, ehrlich, ich ...“
Weiter kam er nicht, denn unvermittelt erfüllte ein vielstimmiges hohes Kreischen die Luft. Es klang wie der Schrei aus unzähligen Kehlen, und dann schoss direkt über Falks Kopf ein Schwarm Fledermäuse aus einer Spalte im Fels; vielleicht hatte ihre Gegenwart sie aufgeschreckt, womöglich war es aber auch bloß an der Zeit, auf Beutejagd zu gehen.
Wie auch immer, auf einmal wimmelte es überall um ihn her vor kleinen fellbedeckten Leibern, und Dutzende ledriger Schwingen schlugen um ihn herum, als ihn die Fledermäuse einhüllten wie ein lebender Mantel. Das schrille Kreischen der Tiere in den Ohren, ließ Falk die Zügel seines Pferdes los und begann instinktiv, nach den Fledermäusen zu schlagen, die eigentlich gar kein Interesse an ihm hatten, doch sein Schlagen und Zappeln ließ sie wütend werden, und plötzlich spürte Falk, wie sich unzählige kleine Zähne und Krallen durch den Stoff seiner Kleidung bohrten. Dutzende winzige scharfe Klauen hieben nach seinem Gesicht.
Er hüpfte hysterisch auf dem schmalen Felsvorsprung herum, ohne darauf zu achten, wie nah er dabei dem Abgrund kam. Die schwirrende Wolke aus Fledermäusen folgte ihm bei jedem Schritt – und plötzlich trat sein linker Fuß ins Leere!
Falk stieß ein überraschtes Keuchen aus. Schlagartig waren die Fledermäuse vergessen. Er ruderte mit den Armen und kämpfte verzweifelt um sein Gleichgewicht, doch der Tritt ins Leere ließ ihn kippen, über den Rand des Felsvorsprungs, und plötzlich hing er halb über dem gähnenden Abgrund. Irgendwo weiter unten – viel weiter unten – sah er den Flickenteppich des Nimmermehrsumpfs, und noch während er sich panisch fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis er unten aufschlug, verlor er vollends die Balance, rutschte vom Sims ab – und griff panisch um sich, in dem hilflosen Versuch, irgendetwas zu erwischen, woran er sich festhalten konnte ...
„Falk!“, rief Jael erschrocken, doch weder sie noch Zara waren im Stande, ihren Gefährten so schnell zu erreichen, wie es nötig gewesen wäre, um ihn zu retten; der Sims war einfach zu schmal, und zwischen ihnen und Falk befand sich jeweils eines der Pferde.
Doch dann ertastete er zwischen den Fingern seiner rechten Hand die Zügel seines Gauls, packte hastig zu und spürte, wie sie sich mit einem harten Ruck spannten. Er blinzelte hastig, als er realisierte, dass er gut dreitausend Meter über dem Abgrund baumelte und sein Leben statt an einem seidenen Faden an einem dünnen Lederriemen hing.
Mühsam gegen seine Panik ankämpfend, hob er den Kopf und sah, dass sich sein Pferd verzweifelt gegen das Gewicht stemmte, das es von dem Felssims in die Tiefe zu reißen drohte.
Der Kopf des Tieres hing, gebeugt durch Falks Gewicht, halb über dem Abgrund. Die Stute stieß ein kurzes, scharfes Wiehern aus, die Hufe gegen den Boden gestemmt, und starrte mit ihren schwarzen Augen panisch in die Tiefe. Bloß Zentimeter trennten sie beide vom sicheren Tod.
„Falk!“, hörte er Zaras Stimme. „Beweg dich nicht!“
Das war leichter gesagt als getan. Das Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben, und das Wissen, dass da tatsächlich keiner war, erfüllten Falk mit einer Todesangst, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. Es war, als läge ein eisernes Band um seine Brust, dass er kaum noch atmen konnte. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, sich nicht zu bewegen, während er sich jetzt mit beiden Händen am Zügel festhielt und ängstlich nach oben schielte, wo sein Gaul um ihr beider Leben kämpfte. Inzwischen hatte Zara sich an Kjell vorbei zu der Stute vorgearbeitet und legte dem Tier beruhigend eine Hand auf den Hals.
„Ruhig, meine Gute“, sagte sie mit sanfter Stimme, streichelte die Mähne des Pferdes und griff mit der freien Hand nach dem straff gespannten Zügel. „Ruhig ... Nur ruhig ... Gutes Mädchen. Ja, gutes Mädchen ...“ Langsam, scheinbar ohne jede Hast, packte sie die Zügel und begann mit einer Hand zu ziehen, während das Pferd unwillkürlich vom Abgrund zurückwich. Zara blieb, wo sie war, packte jetzt mit beiden Händen zu und zog den vor Angst wie gelähmten Falk langsam, ganz langsam nach oben.
Falks panischer Blick glitt zwischen der Vampirin und dem kaum fingerdicken Lederriemen hin und her, an dem sein Leben hing. Das brüchige Rindsleder war zum Zerreißen gespannt, doch es gelang Zara, Falk am Arm zu packen, und einen Moment später saß er zitternd und keuchend auf dem Felssims, die Füße eng an sich gezogen, und er versuchte benommen, seiner Panik Herr zu werden, die nur allmählich von ihm abfiel.
Seine Finger begannen unangenehm zu kribbeln, als das abgeschnürte Blut darin wieder normal zu zirkulieren begann, und als Falk schließlich wieder soweit zu Atem gekommen war, dass er sprechen konnte, stieß er mit tränenerstrickter Stimme hervor: „Ich kann nicht mehr. Für mich ist diese Reise zu Ende. Geht ohne mich weiter.“
„Warum habe ich dich dann gerettet?“, wollte Zara wissen.