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Falk runzelte die Stirn; er verstand die Frage nicht. „Na, damit ich nicht runterstürze und sterbe?“, erwiderte er unsicher. Es klang eher wie eine Frage als wie eine Antwort.

„Sterben wirst du aber“, sagte Zara knapp. „Wenn du hier bleibst.“

„Aber ich kann nicht mehr!“, stöhnte Falk und ließ den Kopf hängen, als hätte ihn alle Kraft verlassen. „Ich ... ich bin am Ende. Meine Glieder sind steif gefroren, mein Magen ist vor Hunger zusammengekrampft, und ... und ... ich kann einfach nicht mehr. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Geht nur allein weiter. Lasst mich hier.“ Er ließ den Blick über die Welt tief unter ihnen schweifen. „Bis ich tot bin, kann ich wenigstens die Aussicht genießen ...“

Zara starrte ihn einen Moment lang missmutig an, als

wollte sie ergründen, wie ernst es ihm damit war, doch selbst in seinen eigenen Ohren hatten seine Worte mehr trotzig als entschlossen geklungen. „Jetzt stell dich nicht an wie ein Mädchen!“, blaffte die Vampirin ihn an. Für einen Moment glaubte Falk, nicht Zorn und Unmut, sondern etwas wie Sorge aus ihren Worten herauszuhören. „Bist du ein Mann oder nicht?“

„Verdammt!“, schrie er sie auf einmal an. „Ja, ja, ich bin ein Mann! Ein Mann – na und? Ich bin ein Mann, und trotzdem bin ich schwach! Denn ich bin nur ein Mensch, Zara! Ein einfacher Mensch – keine Vampirin, keine Seraphim, kein Ork und auch kein Zwerg, der sich in solchen Gebirgen wohlfühlen mag! Nur ein schwacher Mensch! Warum muss ich mir selbst und anderen ständig beweisen, dass ich mehr bin? Dass ich ein Mann bin? Warum?“

Er starrte sie an, und sie musterte ihn. Einen Moment schwiegen beide, dann ergriff Zara wieder das Wort, aber sie sprach mit ruhiger, milder Stimme. „Ich sag dir was, Falk. Du musst niemandem mehr etwas beweisen. Das hast du nämlich bereits hinlänglich getan.“

Falk sah sie fragend an.

„Ich hätte nie gedacht, dass du so lange durchhältst“, erklärte sie. „Um ehrlich zu sein, als wir in Moorbruch aufbrachen, gab ich dir nicht mehr als drei Tage.“

Zwei Tage, hast du gesagt“, warf Jael ein. „Höchstens.“

Trotz seiner Verzweiflung musste Falk grinsen.

„Wie auch immer“, fuhr Zara fort. „Du hast bereits gezeigt, was in dir steckt – und das ist mehr als in den meisten. Aber“, sagte sie mit theatralisch erhobenem Zeigefinger, „wenn du jetzt aufgibst, zeigt das zwar, dass du ein zäher Bursche bist, aber auch ein elender Narr, und im Zweifelsfall wird man sich eher an den Narren erinnern als an den zähen Burschen.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf, auch das übertrieben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das ist, was du willst. Und jetzt komm endlich! Nur noch einen Tag, dann haben wir’s geschafft!“ Sie hielt ihm die Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen.

Falk sah erst Zara und dann ihre Hand an, und obwohl er das ungute Gefühl hatte, dass er seine Entscheidung noch bereuen würde, griff er zu, ließ sich von Zara auf die Beine ziehen, klopfte sich den Schmutz von den Hosen und brummte großmütig, so als würde er ihnen einen Gefallen tun, dass er nicht hier hocken blieb und starb: „Also, gut. Noch einen Tag – und keine Minute länger!“

IV.

Sie brauchten zwei weitere Tage, um den Kamm des Ripergebirges zu erreichen, doch als sie nach einem langen, anstrengenden Marsch über ein kahles Felsplateau unter sich in einem Talkessel Burg Sternental erblickten, gestand sich Falk ein, dass allein dieser unglaubliche Anblick beinahe schon Lohn genug war für all die Mühen, Qualen und tagelangen Entbehrungen, die hinter ihnen lagen.

„Da ist es“, raunte Jael ungewohnt ehrfurchtsvoll, trat an den Rand des Felsvorsprungs, auf den sie gelangt waren, und ließ ihren Blick über die Magier-Enklave schweifen, „Burg Sternental...“

Falk trat neben sie. Der Anblick Sternentals übertraf alles, was er sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Selbstverständlich hatte er sich in den letzten Tagen so seine Gedanken darüber gemacht, was sie wohl auf der anderen Seite des Berges erwarten mochte, aber jetzt musste er feststellen, dass keine seiner Vorstellungen auch nur annähernd mit der Wirklichkeit gleichziehen konnte. Die Burg war in jeder Hinsicht unvorstellbar, und den Blick über die unzähligen Zinnen, Türme, Dächer und Balkone der Enklave schweifen zu lassen, war, als werfe man einen Blick in eine vollkommen andere Welt.

Dabei war schon der Name an sich unwahr, denn Burg Sternental bestand nicht aus einer Burg allein, sondern gleich aus einem halben Dutzend Burgen, die zu den unterschiedlichsten Zeiten und in den verschiedensten Stilen in dem perfekt kreisförmigen Talkessel errichtet worden waren. Während eine der Burgen verspielte Schnörkel und üppige Verzierungen aufwies, herrschten bei der direkt daneben gerade, fast zweckmäßige Linien vor. Da standen Kreuzrippen- und Spitzbögen neben Stützsäulen und Rundbögen, Balustraden und Rusthitzierungen neben pompöser Pracht und Überschwänglichkeit. Sogar die Fenster der Burgen spiegelten die unvergleichliche Vielfalt dieses Ortes wider, da keins dem anderen gleich; da reihten sich kunstvolle Buntglasfenster neben schlichtem Bleiglas. Extravagante Fresken, aus unzähligen einzelnen Glasstücken zusammengefügt, zeigten in künstlerischer Meisterschaft Darstellungen der ancarianischen Historie: die Schöpfung der Welt, die Götterkriege, die Zeit der Zersplitterung, die erste Inquisition und die Entstehung von Burg Sternental.

Zwar waren die Burgen alle mehr in die Höhe als in die Breite gebaut – die niedrigste maß gut und gern hundert Schritte vom Fundament bis zur kupfereisernen Wetterfahne in Form eines Pentagramms auf der obersten Spitze –, doch da alle nebeneinander standen und durch ein chaotisches Wirrwarr von Stegen und Gängen miteinander verbunden waren, entstand der Eindruck, man habe eine einzige gewaltige Burg vor sich, die sich mit sechs verschiedenen Spitzen und Haupttürmen in den Himmel schob, der höchste dieser Türme so hoch, dass die Spitze beinahe die Wolken berührte.

Sonderbare sphärische Lichter in allen Farben des Regenbogens tanzten um die knospenförmige Spitze dieses Turms, wie riesenhafte Glühwürmchen, und als Zara genauer hinsah, schien es, als würde der Himmel über der Enklave verhalten wabern, wie die Luft an einem heißen Sommertag, als wäre die Atmosphäre mit knisternder Magie aufgeladen.

Doch das Bemerkenswerteste an Burg Sternental war, dass sich weder in der Stadt noch im gesamten Talkessel auch nur eine einzige Schneeflocke fand; der Boden rings um die Enklave war schwarz und fruchtbar, die Zinnen und Dächer der Burgen und Häuser ohne jedes Weiß. Auch sonst ließen sich keine Spuren des Winters entdecken, der die Gefährten hoch oben auf dem Pass mit eisigem Griff umfangen hielt: keine frostweißen Büsche und Sträucher, kein grau gefrorener Boden, keine filigranen Eisblumen an den unzähligen Fenstern. Dafür lag der Schnee auf dem rundum laufenden Kamm des Talkessels meterhoch. Es schien, als machte Väterchen Frost ganz bewusst einen Bogen um diesen Flecken Erde.

Ja, mehr noch, es sah so aus, als hätte in der Enklave gerade der Sommer Einzug gehalten, denn die riesigen, uralten Kastanien, die gleich einer Allee in die Stadt hineinführten, standen in voller Blüte, ebenso wie die dichte, haushohe Wildrosenhecke, die sich wie eine natürliche Stadtmauer um das Innere der Enklave zog, was umso erstaunlicher war, da in der Enklave zwar eine andere Jahreszeit zu herrschen schien, der Himmel über Sternental jedoch ebenso finster und wolkenverhangen war wie über dem Rest der Region.

Zara konnte sich auf das Wetterphänomen keinen anderen Reim machen, als dass die Magiegesetze in Sternental doch nicht so streng eingehalten wurden, wie Jael und die, die hinter ihr standen, bisher angenommen hatten. Doch sie behielt ihre Gedanken für sich; solange die Verbotenen Künste zu nichts anderem verwandt wurden, als schlechtes Wetter abzufangen, war ihr das völlig egal.