Nur dass dem Phänomen seine Entmystifizierung diesmal sogleich folgte, denn kaum hatte sich der linke der deckenhohen Türflügel einen Spaltbreit geöffnet, huschte eine Gestalt in einem weiten grauen Gewand in den Korridor, verstimmt – so schien es – vor sich hinbrummelnd. Es handelte sich um einen älteren Mann mit einem langen, zu mehreren Zöpfen geflochtenen Vollbart und einem mannshohen knorrigen Gehstock. Als er die Gefährten vor der Tür stehen sah, verstummte er abrupt und hielt einen Moment lang überrascht inne, bevor er sich sogleich wieder in Bewegung setzte und mit weit ausholenden Schritten den Korridor entlangeilte, auf die Treppe zu, jeder Schritt begleitet vom Klacken der Stockspitze auf dem Onyxboden.
Zara sah dem Mann einen Augenblick lang nach, während der Türflügel vor ihnen noch weiter nach innen aufschwang. Durch sie gelangten die drei in einen quadratischen Saal mit hoher stuckverzierter Decke und einem fugenlosen Fußboden aus nachtschwarzem Marmor, der von einem Netzwerk feiner weißer Äderchen durchzogen war.
Im ersten Moment wusste Zara damit nichts anzufangen, doch dann erkannte sie, dass die weißen Linien auf dem schwarzen Grund ein feines, meisterhaft herausgearbeitetes Muster auf dem Boden bildeten: einen riesenhaften Greif mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Adlers, auf dem Haupt eine Krone wilder Rosen, in den Pranken eine zweiköpfige Schlange, und sofort kam Zara Salieris Siegelring mit dem Symbol des Sakkara-Kultes in den Sinn, auf dem ebenfalls eine zweiköpfige Schlange zu sehen gewesen war, die sich um die Hörner eines Widderschädels wand.
Eine tiefe, volltönende Männerstimme erklang: „Bitte, so tretet näher!“ Der fensterlose Saal hatte die Ausmaße eines großen Bankettsaals und war leer bis auf einen massiven, mindestens acht Meter langen Schreibtisch aus Eichenholz direkt gegenüber der Tür, hinter dem in gleichmäßigem Abstand drei massige Stühle mit hoher lederbezogener Lehne standen, und auf diesen Lehnstühlen wiederum saßen drei ältliche bärtige Männer, die eine Macht und Autorität ausstrahlten, die nahezu körperlich spürbar war.
Zara nahm an, dass es sich um die Administration von Sternental handelte, um den Rat der Bruderschaft, und als die Gefährten nebeneinander näher an den Tisch herantraten, gestand sich die Vampirin ein, dass sie sich Zauberer doch ein wenig anders vorgestellt hatte. Irgendwie märchenhafter, mit langen weißen Barten, spitzen Zauberhüten und Umhängen voller Sterne und Monde darauf. Aber abgesehen von den Barten, die in diesen Kreisen offenbar so etwas wie ein Statussymbol waren, hatten die drei Männer hinter dem Tisch so gar nichts mit ihrer romantischen Vorstellung von Zauberkundigen gemein. Tatsächlich wirkten sie eher wie königliche Beamte oder Steuereintreiber.
Indes die beiden Männer links und rechts kleine kreisrunde Lederkappen trugen, die wirkten, als würden sie eine Tonsur bedecken, fiel dem mittleren Zauberer das lange schlohweiße Haar offen über die Schultern. Sein hageres, ausgezehrtes Gesicht mit den deutlich vorstehenden Wangenknochen hatte etwas bedrückend Asketisches, was durch die nachtschwarze Lederklappe, die das linke Auge verbarg, noch verstärkt wurde. Alle drei Männer waren in einfache graue Kapuzengewänder gekleidet, und neben jedem von ihnen lehnte ein mannshoher Stab am Tisch, genau wie jener Mann einen besessen hatte, der den Saal verlassen hatte. Zara fragte sich, ob es sich dabei um die berühmten Zauberstäbe handelte, von denen in all diesen Geschichten über Magier immer wieder die Rede war, doch die Vorstellung, dass man mit Hilfe dieser knorrigen Stöcke Ratten in Kaninchen verwandeln oder jemandem einen Schweineschwanz anzaubern konnte, erschien ihr zu unglaublich.
Nun standen sie nebeneinander vor dem wuchtigen Tisch, hinter dem die Zauberer saßen wie Könige, und der mittlere der Magier, der sie vorhin aufgefordert hatte, näher zu treten, ergriff wieder das Wort.
„Willkommen, Reisende“, sagte er, und obwohl er seine Stimme nicht erhob, hallten seine Worte in dem großen Saal ehrfurchtgebietend wider, wie ein Echo zwischen Berghängen. Beiläufig bemerkte Zara, dass die Iris seines verbliebenen Auges nicht ein-, sondern zweifarbig war: braun und grün. „Ich bin Godrik, der Enklavenvorsteher, und auch wenn ich mir kaum vorzustellen vermag, was ausgerechnet eine Seraphim nach so langer Zeit wieder hierher verschlagen hat, so freut es mich doch, zu sehen, dass Ihr die Fährnisse Eurer Reise gut überstanden habt.“
„Dann wisst Ihr also, wer wir sind?“, fragte Jael; wenn sie erwartet hatte, dass ihre Worte in dieser seltsamen Umgebung ebenfalls so eindrucksvoll widerhallten wie die des Zauberers, irrte sie. Ihre Stimme klang vollkommen normal, beinahe ein wenig verloren in der großen Halle.
Godrik nickte bedächtig, und seine Rechte schloss sich um seinen Stock, der im Gegensatz zu denen seiner „Beisitzer“ nicht aus knorrigem Baumholz bestand, sondern ein schnurgerader Stab aus polierter weißer Eibe war, der obere Teil mit filigranen Schnitzereien verziert. „Euer Ruf ist Euch vorausgeeilt, Jael, Wächterin des Lichts, Tochter der Delara. Schon seit einiger Zeit rechnen wir mit Eurem Besuch. Was uns hingegen überrascht ist die Gesellschaft, in der Ihr vor uns tretet.“ Der Blick seines zweifarbigen Auges heftete sich auf Zara, und seine Stimme sank ein paar Oktaven tiefer, als er sagte: „Ein Kind der Nacht in diesen Hallen ... allein das ist bereits so abwegig, dass ich es selbst kaum glauben kann. Aber Seite an Seite mit einer Seraphim ... das ist führwahr äußerst erinnerungswürdig!“ Nicht so sehr seine Worte, sondern vielmehr der Tonfall, in dem er sie sprach, zeugte von Vorsicht, Widerwillen – und Sorge. Vor allem von Sorge.
Jael klang überraschend unbekümmert, ja, fast ein wenig trotzig, als sie dagegenhielt: „Noch erinnerungswürdiger wird es, da diese Nosferatu hier die Einzige ihrer Art ist – das einzige Kind der Nacht mit einer Seele.“
Die beiden schweigsamen Beisitzer links und rechts des Enklavenvorstehers wirkten überrascht, Godrik hingegen verzog keine Miene. „Ist das so?“, sagte er und legte leicht den Kopfschief, als könne er Zaras Seele in dieser Haltung besser erkennen. Dann sah er den Wolf an, der neben Zara stand und ihr fast bis zur Hüfte reichte, bevor sein Blick weiter zu Falk und schließlich zurück zu Jael schweifte. „Nun, wie dem auch sei, Ihr seid hier. Jetzt stellt sich die Frage: warum? Was erwartet Ihr, in Sternental zu finden?“
„Antworten“, erklärte Jael knapp.
„Und aufweiche Fragen?“
„Hauptsächlich auf die, ob Iliam Zak noch in der Enklave weilt.“
Die buschigen Augenbrauen des Enklavenvorstehers rückten über der Nasenwurzel zusammen. „Zak?“ Er sprach den Namen mit einer Abneigung aus, die vermuten ließ, dass er und der ehemalige Führer des Sakkara-Kults nicht unbedingt die besten Freunde waren. „Darf man erfahren, was eine Hüterin des Lichts von unserem berüchtigtsten Einwohner will?“
„Informationen“, antwortete Jael ausweichend. „Also lebt er noch?“
„Zak? O ja, Zak lebt noch“, sagte er düster, und es klang, als wäre er über diesen Umstand nicht allzu glücklich. „Er muss inzwischen so alt wie die Welt selbst sein, aber er weilt noch immer unter uns. Er haust allein in einem Turm am Rande eines der Wälder, ein Stück außerhalb der Stadt. Allerdings hält er von der Bruderschaft der Magier ebenso wenig wie wir von ihm, und so gehen wir uns geflissentlich aus dem Weg. Es ist Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe – oder sonst einer. Doch wir sind nicht böse darüber; Zak war in unserer Mitte nie willkommen. Zu schwer hat sein Verrat unsere ganze Zunft in Misskredit gebracht.“
„Welcher Verrat?“, wollte Zara wissen.
Godrik warf ihr einen Blick zu, als wollte er sie zurechtweisen, was sie sich einbildete, das Wort an ihn zu richten. Doch dann antwortete er ihr, wenn auch in einem Ton, als müsse die Antwort jeder in Ancaria wissen. „Natürlich sein Verrat an den Hohen Künsten. Dadurch, dass er versuchte, mit Hilfe der Magie und der Unterstützung der anderen Seite Einfluss zu erlangen, ohne Rücksicht auf das natürliche Gleichgewicht der Mächte. Dadurch, dass er sich am Ende sogar anschickte, den Thron des Königs an sich zu reißen. Damit verriet er unsere gesamte Zunft. Uns ging es nie darum, uns mit Hilfe der Hohen Künste persönliche Vorteile zu verschaffen. Vielmehr war uns wichtig, die Elemente zu ergründen, um besser zu verstehen, was wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.“