„‚Der Weg, der uns weiterbringt, ist auch der Weg, der nach innen führt‘“, zitierte Jael den Sinnspruch auf der Schwelle der Großen Burg.
Godrik nickte bedächtig. „Was wir taten, taten wir zum Wohl der Menschen. Leider gibt es seit jeher einige, die uns und die Hohen Künste fürchten, weil sie dem Irrglauben verfallen sind, wir stünden mit Dämonen im Bunde.“ Er seufzte bitter. „Unwissenheit ist die größte Angst der Menschen; sie fürchten, was sie nicht kennen, und lehnen es deshalb ab.“
„Womöglich haben sie Grund dazu“, sagte Jael. „Nicht all den Brüdern und Schwestern eurer Zunft lag das Wohl der Allgemeinheit stets so am Herzen wie Euch, von dem Magier Zak ganz zu schweigen.“
Godrik nickte. „Ich muss zugeben, dass dies leider stimmt. Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Abtrünnige – Zauberkundige, die sich von den dunklen Mächten verführen ließen. Und die dunklen Mächte dienen nun mal nicht den Menschen, noch lassen sie sich von unsereins kontrollieren. Diese Abtrünnigen haben aus ihrem widerwärtigen Egoismus heraus der Welt und sich selbst Schaden zugefügt – wenn auch keiner so sehr wie Iliam Zak, dessen verbotenes Handeln schließlich den Ausschlag dafür gab, dass wir alle hier sind, in Sternental, wo wir auf ewig bleiben werden.“ Er versuchte, die Verbitterung in seinen Worten unter dem Deckmantel der Wut zu verstecken, doch es gelang ihm nicht recht.
„Und nun?“, fragte Zara. „Womit beschäftigt sich die Bruderschaft jetzt tagaus, tagein, da euch die Zauberei bei Höchststrafe untersagt ist?“
„Mit dem Gleichen wie vor tausend Jahren“, erklärte Godrik, „nur in der Theorie statt in der Praxis. Wir haben uns der Wissenschaft verschrieben, mit dem Ziel, das Unerklärliche zu erforschen, statt damit zu experimentieren, in der Hoffnung, eines Tages den Quell der Magie zu finden und ihn für alle Menschen auf friedliche Weise nutzbar zu machen.“
„Mit anderen Worten“, entgegnete Zara, „ihr versucht die Magie erklärbar zu machen, um irgendwann rehabilitiert zu werden und da weiterzumachen, wo ihr damals unterbrochen wurdet, nur mit offizieller Genehmigung – und natürlich zum Wohle der Menschheit.“
Der leichte Spott in ihrer Stimme ließ Godrik zusammenzucken. Er bedachte sie mit einem scharfen Blick und wandte sich demonstrativ wieder Jael zu. „Jetzt, da Ihr wisst, wo Ihr Iliam Zak findet, wäre es da nicht angebracht, mir als dem Enklavenvorsteher zu sagen, was Ihr von ihm wollt? Immerhin trage ich die Verantwortung für die Enklave und alles, was hier geschieht, und ich bin gern darüber informiert, was in meiner Ägide vor sich geht.“
Jael ließ sich nicht einschüchtern. „Wie Ihr wisst, genießt Iliam Zak seit Jahr und Tag die besondere Aufmerksamkeit der Königlichen Inquisition. Unser viel geliebter König ist ein vorausschauender Mann, der gern weiß, wo seine Feinde sitzen. Und Ihr habt selbst gesagt, dass Ihr Zak schon seit langem nicht mehr gesehen habt und ...“
Godrik unterbrach sie: „Wollt Ihr damit andeuten, er wäre vielleicht aus der Enklave geflohen?“ Der Gedanke schien ihn zu erheitern.
Jael zuckte mit den Schultern. „Dieses Gerücht ist zumindest dem König zu Ohren gekommen. Es gibt einige, die behaupten, Zak an den verschiedensten Orten des Reichs gesehen zu haben: in Hohenmut in der Kräutergasse; in Mascarell, wo er auf dem Friedhof die Grabstätten seiner Vorväter besuchte; auf einem Markt in Tyr-Fasul.“ Sie brachte ihre Lügengeschichte derart glaubhaft vor, dass selbst Falk darüber staunte. „Sternental ist kein Gefängnis, und jeder, der gehen will, kann gehen. Zwar wird er dadurch zum Vogelfreien, aber könnte das jemanden wie Iliam Zak von seinen Plänen abhalten?“
Godrik und seine beiden Beisitzer wechselten einen Blick. Dann winkte Godrik ab, vielleicht ein wenig heftiger, als angebracht war. „Iliam Zak geflohen? Unmöglich! Noch nie hat jemand der Enklave den Rücken gekehrt, und wenn er es versucht hätte, wüsste ich davon. Wir haben hier zwar keine Mauern und Tore, aber wir haben gewisse Mög...“ Er unterbrach sich selbst mitten im Wort, offenbar weil er zu der Ansicht gekommen war, dass es nicht ratsam war, weiterzusprechen. Stattdessen erklärte er: „Zak ist in seinem Turm, seit fünfhundert Jahren, und dort bleibt er bis zu seinem Ende, wann auch immer das kommen mag.“
„Euer Wort in allen Ehren“, sagte Jael, „aber es wäre dem König gewiss lieber, aus vertrautem Munde zu erfahren, dass das Gerücht, das am Hofe Kreise zieht, unzutreffend ist.“
„Gerücht, Gerücht...“ Godrik vollführte erneut eine Geste mit der Hand, als wolle er Jaels Worte vom Tisch wischen. „Nichts weiter als Gerede! Wenn Ihr tatsächlich glaubt, hier in Sternental sei etwas im Gange, das gegen die Magiegesetze verstößt, dann irrt Ihr! Selbst wenn ich meine Hand bestimmt nicht für Iliam Zak ins Feuer lege, für die Bruderschaft tue ich es – und auch dafür, dass alles in Sternental so ist, wie es sein soll! Merkt euch meine Worte: Es gibt immer einen Esel, der hofft, durch das Verbreiten eines Gerüchts interessant zu werden!“
„Man sagt auch, dass das Gerücht stets denjenigen als Letzten erreicht, mit dem es sich beschäftigt“, entgegnete Jael schlagfertig.
„Wie auch immer“, brummte Godrik, nicht bereit, auf Jaels Worte weiter einzugehen, auch wenn es in ihm brodelte, „natürlich steht es Euch frei, Euch im Namen des Königs in Sternental umzuschauen, sodass Ihr Seiner Majestät versichern könnt, dass all seine Sorgen unbegründet sind.“ Er nickte den dreien mit arrogantem Wohlwollen zu. „Brutus im Räudigen Köter hat Quartiere zu vermieten. Ich bin überzeugt, dass er Euch einen guten Preis machen wird. Und nun entschuldigt uns bitte.“
Damit war die Unterredung für den Enklavenvorsteher beendet. Ohne ein Wort des Abschieds winkte er in Richtung Tür, die sich daraufhin scheinbar von selbst auftat. Dann beugte er sich zu einem seiner Beisitzer, um ihm leise etwas ins Ohr zu flüstern; für die drei Gefährten hatte er keinen Blick mehr.
Einen Moment lang stand Jael unschlüssig da. Dann drehte sie sich um und durchquerte mit schnellen Schritten den Saal; die anderen folgten ihr. Sobald sie draußen im Korridor waren, schloss sich die Tür hinter ihnen, und endlich konnte Zara ihrem Zorn Luft machen; sie hatte ihn die ganze Zeit über mühsam unterdrückt, um der Seraphim nicht in die Parade zu fahren. „Liebe Güte, was für ein arroganter Kerl! Seine Überheblichkeit wird nur noch übertroffen von seiner Ignoranz!“
Jael schien im Gegensatz zu Zara nicht im Mindesten aufgebracht über die kaltschnäuzige Abfuhr, die der Zauberer ihnen erteilt hatte. Als sie durch den schwarzen Korridor zurück zur Treppe gingen, wirkte sie beinahe erleichtert, als hätte sie damit gerechnet, dass die Unterhaltung noch weit unangenehmer hätte verlaufen können.
Sie hatten das obere Ende der Treppe erreicht, als Zara ihre Neugierde nicht länger zügeln konnte. „Warum hast du ihn angelogen?“, fragte sie die Seraphim.
Die schaute sie fragend an. „Wen angelogen?“
„Na, diesen Zauberer! Warum hast du ihm nicht gesagt, warum wir hier sind?“
Jael gab ihr keine Antwort darauf, sondern sagte: „Es gibt Dinge, die wir besser anderswo besprechen sollten. Hier haben die Wände Ohren.“ Daraufhin blinzelte sie Falk verschwörerisch zu. „Da wir jetzt den offiziellen Teil hinter uns haben, können wir ruhigen Gewissens den einen oder anderen Happen zu uns nehmen. Vielleicht finden wir bei dieser Gelegenheit auch jemanden, der uns den Weg zu Zaks Turm erklärt.“