Am nächsten Abend warf Zara das Fleisch zwanzig Schritte entfernt von ihrem Lager hin, und auch diesmal kam der Wolf nach einigen Minuten und holte sich den Brocken, obwohl er dafür nun näher herankommen musste. Dieses Spielchen wiederholte sich auch am dritten und vierten Abend, und jedes Mal warf Zara den Fleischbrocken kürzer, sodass das Tier von Tag zu Tag näher an sie heran musste, bis bloß noch zehn Schritte zwischen dem Fleisch und ihrem Lager waren.
Und im gleichen Maße, wie sich der Wolf an sie gewöhnte, gewöhnten sie sich an den Wolf. Hatte Falk in der ersten Nacht noch wach zu bleiben versucht und auf jedes Geräusch gelauscht, aus Furcht, der Wolf könnte sich auf sie stürzen, kaum dass sie in Morpheus’ Armen weilten, so legte sich seine Furcht vor dem wilden Tier, je länger sie unterwegs waren. Er war mittlerweile überzeugt davon, dass ihnen von dem Wolf keine Gefahr drohte; das Tier würde ihnen nichts tun.
Aber was wollte der Graupelz von ihnen?
Keiner von ihnen vermochte es zu sagen.
Am dritten Tag ging der Wald allmählich in einen Sumpf über; die Bäume und Sträucher, die den Trampelpfad all die Zeit über begrenzt hatten, wichen nun zurück und wurden spärlicher, bis sich rings um die Wanderer eine düstere Sumpflandschaft erstreckte, eine braunschwarze Fläche mit verkrüppelten Kiefern, kleinen Erdinseln inmitten wabernder Nebel und verzweigten Pfaden fester Erde, zwischen denen das Moor gluckste. In der Luft lag der moderige Geruch von toten Pflanzen, die in Brackwasser vor sich hinfaulten. Ein seltsames, unnatürliches Zwielicht herrschte. Hinter der dichten Wolkendecke am Himmel zeichnete sich die Sonne nur als blasser Schemen ab. Egal, wie weit der Tag auch fortschritt, es schien nie richtig hell zu werden – ein Eindruck, der von den Nebelschwaden, die über allem lagen, noch verstärkt wurde.
Man musste aufpassen, wohin man trat. Überall blubberte und gluckste es, als würde das stinkende dunkle Wasser zwischen den festen, sicheren Erdstegen kochen. Hier und da ragten verkrüppelte, längst tote Bäume aus dem Moor, oder Bäume und Buschwerk drängten sich auf Erdinseln inmitten des Sumpfes zu kleinen Wäldchen zusammen.
Es war eine trostlose Gegend bar jeden Lebens, wie es schien.
Bar jeden Lebens?
Nicht ganz. Als Falk gegen Ende ihres ersten Tages in den Sümpfen – dem vierten Tag ihrer Reise – gelangweilt den Blick schweifen ließ, machte er in dem wogenden Halbdunkel unversehens eine Bewegung aus. Seit sie Moorbruch verlassen hatten, waren sie keiner Menschenseele begegnet, Tiere hatten sie nur selten gesehen, und wenn sich die Gefährten unterhielten, dann einsilbig und mit wenigen Worten, sodass man die meiste Zeit über seinen eigenen Gedanken nachhing und daraufwartete, dass die Etappe dieses Tages zu Ende ging. Da war ein wenig Abwechslung fast eine willkommene Freude; so jedenfalls empfand es Falk, als er ganz in der Nähe mehrere weiß leuchtende vage Schemen ausmachte, die – einer Prozession gleich – durch den wabernden weißen Nebel schwebten.
Falk verkniff die Augen zu schmalen Schlitzen, um besser erkennen zu können, was sich dort im Nebel tat. Er war gerade zu dem Schluss gelangt, dass es Gestalten mit Laternen waren, deren Schein ihre Gewänder im Zwielicht unnatürlich weiß schimmern ließ, als eine Windbö heulend und jammernd durch das tote Land strich, und plötzlich wehten die weißen Lichter auseinander wie Nebelschwaden – nur um ein paar Herzschläge später an einer vollkommen anderen Stelle des Sumpfs wieder aufzutauchen.
Falks Begeisterung über die Abwechslung verwandelte sich in bedrückende Furcht. Geschichten, die ihm seine Großmutter erzählt hatte, kamen ihm in den Sinn – Geschichten über menschenfressende Geister, über Nachzehrer, die in Nebelgestalt durch die Schlüssellöcher in jedes Haus eindrangen, um sich an den Lebenden zu laben ...
„Bei allen Göttern“, murmelte Falk ängstlich. „Geister.“
Jael, die ein Stück vor ihm ritt, wandte sich halb zu ihm um. „So ungern ich dich auch enttäusche“, sagte sie süffisant, als hätte sie bereits damit gerechnet, dass er auf diese Täuschung hereinfallen würde, „aber das sind keine Geister.“
„Na, und was dann?“, wollte Falk wissen, während er zu gleichen Teilen fasziniert und furchtsam verfolgte, wie die seltsamen weißen Lichter zu einer unhörbaren Melodie durch den Nebel tanzten. „Um was sollte es sich bei diesen Gestalten denn dann handeln, wenn nicht um Geister?“
„Irrwische“, erwiderte Jael knapp.
Falk schauderte und verzog das Gesicht. „Klingt gefährlich.“
Jael lachte. „Nun, nicht viel gefährlicher als Sumpfgas“, sagte sie. „Denn darum handelt es sich – um sich selbst entzündendes Sumpfgas.“
„Und das ist nicht gefährlich?“, fragte Falk misstrauisch.
„So gefährlich wie ein Furz“, mischte sich Zara ein. „Und riecht auch so.“ Sie verzog angewidert das Gesicht, als ein zweiter eisiger Hauch die Irrlichter auseinander wehte und den Gestank von Schwefel und Verwesung zu ihnen trug. „Widerlich.“
„Oh“, machte Falk. Er schaute hinüber zu den seltsamen weißen Schemen, die lautlos durch den Sumpf schwebten. Irgendwie sahen sie immer noch aus wie Geister. Peinlich war es jedoch schon, dass er sich von aufsteigendem Sumpfgas hatte ängstigen lassen ...
Jael folgte seinem Blick. „Diese Irrlichter sind noch das Harmloseste, das hier lauert“, erklärte sie ernst. Als Falk sie daraufhin fragend ansah, sagte sie mit einer Stimme, die der seiner Schauermärchen erzählenden Großmutter gar nicht so unähnlich klang: „Dies ist eine gefährliche Gegend, und sie ist wenig erforscht, da es hier weit und breit nichts gibt, das für die Krone, die Bürger Ancarias oder sonst jemanden von Interesse wäre. Bloß Sumpf und unwirtliches Gelände. Wer sich hierher verirrt, will entweder nicht gefunden werden, oder er ist unterwegs nach Sternental, und beides wirft kein sonderlich gutes Licht auf den Betreffenden.“
Sie schnalzte mit der Zunge, als ihr Pferd dem sumpfigen Ufer zu nahe kam, und brachte das Tier mit einem Ruck am Zügel auf den rechten Pfad zurück, ehe sie fortfuhr: „In dieser Gegend sind im Laufe der Jahrhunderte etliche Menschen verschwunden, und obwohl in vielen Fällen sogar nach den Vermissten gesucht wurde, hat man nie auch nur eine Leiche gefunden. Sie alle sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Das hat diesen Sümpfen auch ihren Namen eingebracht – man nennt sie die Nimmermehrsümpfe.“
„Die Nimmermehrsümpfe“, wiederholte Falk ehrfurchtsvoll, und wieder sah er hin zu den „Geistern“, die lautlos über das Brackwasser schwebten. Er spürte, wie ein eisiger Finger sein Rückgrat hinabstrich, und schauderte. Fröstelnd raffte er den Kragen seines Mantels enger zusammen. Er konnte sich nicht helfen, irgendwie war gegen diese trostlosen Sümpfe selbst der Dunkelforst einladend gewesen.
Sie trabten weiter, doch während sie im Wald relativ rasch vorangekommen waren, konnten sie sich in den Nimmermehrsümpfen nur vorsichtig bewegen. Es ging nur langsam voran, sodass Falk zuweilen das Gefühl hatte, sich überhaupt nicht von der Stelle zu bewegen. Hinzu kam das unheimliche Halbdunkel, das die Trostlosigkeit um sie herum noch betonte und die Stimmung der Reisenden merklich drückte. Dies war kein Ort, an dem man freiwillig verweilen wollte, so viel stand fest.
„Thor“, murmelte Zara irgendwann, als sich die ersten Schatten der Nacht in das ewige Dämmerlicht schlichen.
Falk runzelte die Stirn. „Hm?“
Sie nickte in Richtung des Wolfes, der zwanzig Schritte hinter ihnen durch den Sumpf trottete. Obwohl sie in den vergangenen Tagen von früh morgens bis spät abends unterwegs waren, war von seinem Humpeln kaum noch etwas zu bemerken. Die Wunde, die ihm das Fangeisen zugefügt hatte, schien rasch zu verheilen. „So werde ich ihn nennen: Thor.“