„Weil diese Angelegenheit diplomatisches Vorgehen erfordert“, sagte Jael, hob ihren Krug, trank einen kräftigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken ganz undamenhaft über den Mund. „Wenn Godrik wüsste, was ich weiß, bestünde die Gefahr, dass dieses Wissen Kreise zieht. Erst würde es sich hier in der Enklave herumsprechen, danach wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Rest des Königreichs davon erführe; Angst und Furcht würden sich in der Bevölkerung breit machen. Dies wiederum könnte unserem König nicht gefallen. Nein, diese Angelegenheit ist zu heikel, als dass man sie jemandem anvertrauen könnte, den das Ausüben der Verbotenen Künste auf ewig ins Exil verbannt hat. Im Übrigen“, fügte sie nach einer kurzen Pause verschwörerisch hinzu, „war nicht alles gelogen, das ich Godrik gesagt habe; es gibt tatsächlich den einen oder anderen, der behauptet, Iliam Zak in den letzten Jahren an den unterschiedlichsten Orten des Reichs gesehen zu haben, und der König ist darüber so besorgt, dass er wissen möchte, ob daran etwas Wahres ist, selbst wenn das vermutlich nur Hirngespinste sind. Immerhin wird auch der Geist des großen Elvarius regelmäßig gesehen, obwohl jeder weiß, dass der Barde schon seit Ewigkeiten tot und vermodert ist.“
„Oder der Weingeist“, sagte Falk spöttisch. Er packte seinen Bierkrug mit beiden Händen, hob ihn an die Lippen und trank ein paar tiefe Züge, bevor er ihn wieder abstellte, zufrieden und laut rülpste und erklärte: „Klingt ja alles entschieden dramatisch.“ Doch es machte nicht den Eindruck, als fände er das Ganze sonderlich spektakulär.
„Es ist dramatisch“, behauptete Jael, plötzlich sehr erst.
„Als ich Godrik sagte, der König wäre in großer Sorge, entsprach das der Wahrheit, bloß sind die Gründe für des Königs Sorge ein wenig anders, als ich Godrik dargelegt habe.“
Zara legte die Stirn in Falten. „Also ist da doch etwas“, sagte sie. Es war keine Frage, vielmehr die Feststellung, dass ihr Gefühl sie die ganze Zeit nicht getrogen hatte. Sie beugte sich vor und musterte die Seraphim eindringlich. „Was hat das alles zu bedeuten? Was weißt du, was wir nicht wissen?“
Einen Augenblick lang schaute Jael von einem zum anderen und schien mit sich zu ringen, ob sie ihnen wirklich vertrauen konnte. Sie warf einen raschen Blick zu den Zauberern hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie nicht gehört wurde, und sagte schließlich mit leiser, gepresster Stimme, sodass nur Falk und Zara sie verstehen konnten: „Die Bestien ... es gibt noch mehr davon.“
Falk, der sich gerade anschickte, den Rest seines Krugs zu leeren, war so überrascht, dass er sich das Bier in den falschen Hals kippte. Er verschluckte sich, hustete krampfhaft und starrte Jael fassungslos an. „Du meinst ... in Moorbruch? In Moorbruch treiben noch mehr Bestien ihr Unwesen? Dann habt ihr also doch nicht alle erwischt?“
Jael winkte ab. „Moorbruch ist lediglich ein Steinchen in einem Puzzle, das wesentlich komplexer ist, als ihr ahnt.“
Eigentlich hätte Zara beleidigt sein müssen, dass Jael ihnen die wahren Hintergründe dessen, das sie hierher ans Ende der Welt gefuhrt hatte, trotz mehrfacher Nachfragen so beharrlich verschwiegen hatte. Doch ihr war klar, dass die Seraphim nicht den geringsten Grund gehabt hatte, ihr zu trauen; nicht nach allem, was sie getan hatte. Sie selbst hätte schwerlich anders gehandelt. Also forderte sie lediglich, statt Jael Vorwürfe zu machen: „Erzähl!“
Jael brauchte noch einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln. Dann erklärte sie mit ernster, gedämpfter Stimme: „Moorbruch ist nicht das einzige Gebiet im Königreich, wo in diesen dunklen Tagen sonderbare Dinge geschehen. Etwas ist im Gang, und überall ähneln sich die Umstände derart, dass ein Zufall ausgeschlossen werden kann.“
„Die Umstände wovon?“, fragte Zara.
„Die Umstände der Morde“, sagte Jael. „Blutige, brutale Morde. Junge Frauen, keine älter als zwanzig. Jungfrauen wahrscheinlich.“
Zara brauchte einen Moment, um ihre Überraschung zu verwinden, doch sobald der erste Schock abgeklungen war, begann ihr Verstand mit gewohnter Präzision zu arbeiten, und sie sagte knapp: „Wie viele?“
„Drei Dutzend“, sagte Jael düster. „Vielleicht mehr, das ist schwierig zu sagen, weil nicht alle Opfer gefunden wurden; einige verschwanden einfach nur spurlos, ohne je wieder gesehen zu werden. Aber denen, die man fand, wurde mit brutaler Gewalt das Herz aus dem Leib gerissen, genau wie in Moorbruch. Die Wunden der Opfer waren in allen Fällen ähnlich, wie von einem wilden Tier, und an mindestens zweien der Leichenfundorte haben wir Pfotenabdrücke entdeckt, die zu den Blutbestien passen.“
„Und wo haben sich diese Morde ereignet?“
„In Biberringen, Finsterwinkel und in Galadur, das weit im Norden des Reichs liegt, wo das Eis nie schmilzt.“
„Diese Orte sind ziemlich weit von Sternental entfernt“, bemerkte Zara. „Viele Tagesreisen.“
Jael nickte. „Und jeder davon liegt in einer anderen Himmelsrichtung, zumindest grob. Außerdem haben die Morde alle fast zur selben Zeit begonnen: mit Einbruch des Winters. Deshalb können wir auch ausschließen, dass Salieri seine Bestien auf eine kleine Rundreise durch Ancaria geschickt hat; allein die gewaltigen Entfernungen zu den anderen Tatorten legen nahe, dass der Ein-Gott-Priester allein für die Morde in Moorbruch verantwortlich war.“
Als Falk begriff, was das bedeutete, flackerten Unglauben und Entsetzen in seinen Äugen auf. „Aber das würde ja heißen, dass es ...“
„... überall im Königreich verteilt noch weitere Verblendete wie Salieri gibt, die ihre Blutbestien losschicken, um Jungfrauenherzen zu sammeln“, bestätigte Jael düster. „Salieri war kein Einzeltäter, sondern gehörte zu einer Gruppe von Verschwörern, die offenbar die Absicht haben, dem Sakkara-Kult zu neuer Stärke zu verhelfen.“
Zara griff nach ihrem Bier. „Dann wusstest du, womit wir es zu tun haben, als du nach Moorbruch kamst? Dass es bei alldem um ein Wiedererstarken des Sakkara-Kults geht?“
Jael schüttelte den Kopf. „Nein. Diese Information haben wir erst durch Salieri und seinen Ring erhalten; bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht die geringste Ahnung, womit wir es hier zu tun haben, denn leider konnten wir keinen der anderen Verschwörer dingfest machen oder gar verhören.“ Wie um Zaras nächste Frage vorwegzunehmen, sagte sie: „Sie sind alle tot; als sie mitbekamen, dass wir ihnen auf der Fährte waren, haben sie ihrem Leben wie Feiglinge selbst ein Ende gesetzt – so wie Salieri. Keiner von ihnen trug etwas bei sich, das uns weitergebracht hätte; offenbar haben sie alles, was uns auf die richtige Spur hätte bringen können, rechtzeitig vernichtet oder verschwinden lassen. Jeder von ihnen hat allein und auf eigene Faust gearbeitet, wenn auch alle ein gemeinsames Ziel verfolgten. Und genau wie auch Salieri waren sie alle unauffällige Bürger. Einer war Bäcker, ein anderer ein zurückgezogen lebender Gelehrter, der dritte ein Küfer. Keinem von ihnen hätte man zugetraut, dass er im Verborgenen den Dunklen Mächten diente.“
„Bösewichter, die wie Bösewichter aussehen, gibt es nur in Märchen“, sagte Zara, und Falk fragte: „Und die Blutbestien? Was ist aus ihnen geworden, nachdem ihre Herren tot waren?“
„Wir haben sie getötet“, erklärte Jael düster, und es war, als würde ihr die Erinnerung daran Kummer bereiten; vielleicht auch der Gedanke an etwas anderes. Sie wandte den Blick ab, setzte den Humpen an die Lippen und ließ das kühle Bier in tiefen Zügen durch ihre Kehle fließen, scheinbar auf der Suche nach Vergessen. „Jede einzelne von ihnen.“
„Du sagst ständig ,wir‘, wenn du von deinen Mutmaßungen sprichst“, sagte Zara. „Wer sind ,die‘, die hinter dir stehen? In wessen Diensten stehst du?“
„Hinter mir stehen die Alten Götter“, sagte Jael, „doch ich diene unserem König, so wie meine Seraphim-Schwestern, die vom König eingesetzt wurden, um diesen beängstigenden Vorgängen auf den Grund zu gehen. Wie ich schon Godrik sagte: Unser König ist ein vorausschauender Mann. Er ahnte, dass etwas im Busch ist, sobald ihm Gerüchte über die ersten Morde zu Ohren kamen. Nur ihm sind wir Rechenschaft schuldig, nur ihm gilt unsere Treue.“ Es klang fast wie ein Schwur. „Sein Wunsch ist es, dass diese Angelegenheit so diskret wie möglich geklärt wird, um zu vermeiden, dass seine Untertanen davon erfahren und Unruhe entsteht. Denn Unruhe ist das Letzte, was der König möchte; er und seine Vorfahren haben zu lange darum gekämpft, ein stabiles Reich zu schaffen.“