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Sie hatten die Pferde draußen vor dem Räudigen Köter an einer der wenigen gusseisernen Gaslaternen festgebunden, die ihr schummriges Licht auf das vom Regen feuchte Kopfsteinpflaster warf. Zum Glück hatte der Regen nachgelassen und war zu einem klammen Nieseln geworden, das beinahe wie Nebel durch die dunklen Gassen von Sternental wehte.

Auf dem Platz am Ende der Gasse ragte das Burgenkonglomerat düster und Ehrfurcht gebietend in den Nachthimmel, an dem sich dicke graue Wolken zusammenballten. Ein eisiger, schneidender Wind pfiff durch die Stadt und trieb die toten Blätter des Herbstes vor sich her, der die Enklave fest in seinem Griff hielt. Nicht mehr lange, und Väterchen Frost würde Einzug in Sternental halten. Die Frage war nur: für wie lange? Wenn sich die Jahreszeiten weiter mit diesem Tempo änderten, war der Schnee wohl bereits geschmolzen, bevor er den Boden berührte ...

Satt und von neuem Tatendrang erfüllt, saßen die Gefährten auf und ritten durch das Wirrwarr der Gassen zum Ortsausgang. Hinter den beiden Obelisken zeichneten sich in der Ferne unter den ziehenden Wolken die weißen Gipfel des Ripergebirges ab, doch ihr Ziel lag in der anderen Richtung – zumindest, wenn sie Brutus richtig verstanden hatten. Seiner genuschelten Wegbeschreibung folgend, kehrten sie der Enklave den Rücken und ritten an der hoch aufragenden immergrünen Rosenhecke in südwestlicher Richtung um die Stadt herum, bis links von ihnen ein Bach auftauchte, über den eine überdachte Holzbrücke führte.

Das Geräusch der Hufe hallte hohl in dem kurzen hölzernen Tunnel, der vom trägen Rauschen des Wassers unter den Planken erfüllt war wie eine Muschel vom Geräusch der Meeresbrandung. Dann trabten sie auf der anderen Seite wieder heraus, das Murmeln des Bachlaufs blieb hinter ihnen zurück, und dafür breitete sich vor ihnen ein dichtes Kiefernwäldchen aus, das bis zum Rand der Talsenke reichte.

Ein Trampelpfad wand sich zwischen den Bäumen, so voller Moos und kniehohem Unkraut, dass Zara sich fragte, wie lange es wohl her sein mochte, seit zum letzten Mal jemand diesen Weg benutzt hatte. Der dicke Nadelteppich auf dem Boden dämpfte das Geräusch der Hufe zu einem monotonen Klopfen.

Hintereinander hertrabend, folgten sie dem Pfad eine gute Meile in den Wald, der mit jedem Meter, den sie weiter vordrangen, düsterer und bedrohlicher zu werden schien; die immer dichter stehenden Bäume wiegten sich im Wind, überall im Unterholz schien es zu knacken und zu rascheln, als würde jemand durchs Dickicht schleichen, und schließlich begann es tatsächlich zu schneien.

Der unheimlich säuselnde Wind blies ihnen Pulverschnee ins Gesicht, erst kleine Flöckchen, dann dicke, flauschige Flocken. Bald bedeckte eine feine weiße Puderschicht den Pfad und die Kiefern links und rechts des Weges, und innerhalb von Minuten hatte sich der dunkle Forst in eine Winterlandschaft verwandelt, deren weißer Glanz die Düsterkeit dieses Ortes nicht zu mindern vermochte.

Es war nichts wirklich Greifbares, nur die Ahnung von etwas Bösem, das in diesen Wäldern hauste, doch die genügte, dass sich Zaras Nackenhaare sträubten. Thor schien es ebenfalls zu spüren; er hielt sich dicht bei Kjell und hatte die Ohren aufmerksam gespitzt, als würde er auf Laute horchen, die Zara nicht hören konnte. Auch seine Nackenhaare hatten sich bürstengleich aufgestellt, und als irgendwo im Unterholz unversehens ein Käuzchen seinen unheimlichen Ruf ausstieß – Komm mit! Komm mit! –, ließ der Wolf ein leises, warnendes Knurren hören.

Hier lag irgendetwas im Argen, daran gab es keinen Zweifel.

Schließlich wichen die Bäume nach einer weiteren Meile vom Pfad zurück, der Weg vor ihnen öffnete sich zu einer kleinen kreisrunden Lichtung, und Zaks Turm tauchte wie ein krummer, dürrer Finger aus dem Schneegestöber auf, ein dunkler, missförmiger Schatten im wirbelnden Weiß, errichtet aus kantigen schwarzen Bruchsteinen, drei Etagen hoch und mit einem runden, fast pilzförmigen Schindeldach. Hier und da waren schmale, hohe Fenster in die Mauern eingelassen, doch hinter keinem davon schimmerte Licht. Alles war dunkel, wie verlassen.

„Vielleicht schläft Zak schon“, mutmaßte Falk, als sie über die Lichtung langsam auf den düsteren Turm zutrabten. „Wäre doch möglich; immerhin ist Mitternacht nicht mehr fern.“

„Wir werden sehen“, erwiderte Zara, doch sie war skeptisch. Irgendetwas sagte ihr, dass Iliam Zak nicht schlief; oder zumindest nicht hier.

Rings um den Turm wehte der Schnee ungehindert über die Lichtung und türmte sich zu kniehohen Wellen auf. Sie stiegen ab, stapften zur grobgezimmerten Tür des alten Turms, und nach kurzem Zögern griff Jael nach dem patinabeschichteten Löwenschädel, der als Türklopfer diente. Das Krachen hallte hohl und unheimlich über die Lichtung.

Bumm! Bumm! Bumm!

Als der Klopfer das Holz beim dritten Schlag berührte, schwang die Tür mit dem leisen Quietschen schlecht geölter Angeln einen Spaltbreit nach innen auf; dahinter dräute Schwärze.

Jael wandte sich mit gefurchter Stirn zu ihren Begleitern um, ehe sie leicht gegen die Tür drückte, die daraufhin noch weiter aufschwang; offenbar war sie nur angelehnt gewesen, nicht geschlossen. Aus dem Innern des Turms drang ein Schwall abgestandener, staubiger Luft, als wäre drinnen schon seit längerem nicht mehr gelüftet worden.

Jael beugte sich halb über die Schwelle. „Hallo?“, rief sie nach drinnen. „Ist da jemand? Iliam Zak? Seid Ihr da?“

Keine Antwort.

„Iliam Zak?“, versuchte sie es erneut. „Wir müssen mit Euch reden.“

Erneut keine Reaktion.

Jael versuchte es ein drittes Mal und wartete noch einen Augenblick, doch als sich im Innern des Turms auch dann nichts tat, schob sie die Tür ganz auf und trat vorsichtig über die Schwelle, um sich in der unteren Ebene umzusehen. Die anderen folgten ihr, Zara und Thor neugierig, Falk mit einem unguten Gefühl in der Magengrube. Er war nicht der Held in diesem Stück, sondern der Hofnarr, und den Narren erwischte es immer zuerst...

Im Innern des kreisrunden Turms herrschte düsteres Zwielicht, doch weder Jael noch Zara hatten Mühe sich zurechtzufinden. Schweigend nahmen sie die untere Ebene des Turms in Augenschein, die nichts weiter war als ein einziger kreisrunder Raum, vielleicht zehn Schritte im Durchmesser.

Offenbar war dies so etwas wie die Küche; es gab einen rußgeschwärzten alten Ofen, über dem mehrere Pfannen hingen, einen steinernen Spülstein und einen klobigen Holztisch, auf dem noch schmutziges Geschirr stand. Auf dem Teller wucherte dichter weißer Schimmelflaum, in dem Blechbecher zeigte sich der eingetrocknete schwarze Rand von Mohnkaffee, und das Besteck lag so auf dem Tellerrand, als wäre jemand nur kurz vom Tisch aufgestanden, in der Absicht, sein Mahl gleich zu Ende zu bringen. Doch wie es schien, hatte ihn irgendetwas davon abgehalten, und das -dem Schimmel auf den Essensresten nach zu urteilen – bereits vor einer geraumen Weile; die Speisereste stanken nicht einmal mehr.

Zara fuhr mit dem Finger über die Tischplatte; grauer Staub blieb an ihrer Fingerspitze haften. Doch das musste alles noch nichts bedeuten. Vielleicht hielt Iliam Zak einfach nicht viel vom Reinemachen – oder davon, seine Tür ordentlich zu verschließen ...

In der Mitte des Raums führte eine eiserne Wendeltreppe hoch in die nächste der drei Etagen. Die unterschied sich vom Grundriss her in nichts von der Küche unten, wie die Gefährten feststellten, als sie nacheinander und in erwartungsvollem Schweigen die schmale knarzende Stiege emporgingen: eine kleine, runde Kammer mit einem Bett, einer Waschkommode, einem Schrank und einem Nachttisch, auf dem eine dicke Kerze stand. Das Bett war zerwühlt, und auf dem Boden daneben lag ein Stapel Bücher: Die Wassermagie-Fiebel – Das Matriarchat der Tiefe – Über Elfen, Vampyre und andere Schattenwesen – Die Lebensweisheiten des Ritters Markus Marian ... und noch andere Werke in wasserfleckigen Einbänden, die wirkten, als wären sie zu einer Zeit gefertigt worden, in der der Buchdruck mit beweglichen Lettern noch als revolutionäre neue Errungenschaft galt.