Ohne sich um die verwunderten Blicke der Gefährten – oder das warnende Knurren von Thor – zu kümmern, tat der Mann ein paar Schritte in die Dachkammer und musterte die sterblichen Überreste unter dem Tisch in einer Mischung aus Abscheu, Gleichmut und Genugtuung. Schließlich ließ er ein müdes Seufzen hören, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und wiederholte noch einmal, eher traurig als erleichtert: „Er ist es.“
„Wer seid Ihr?“, wollte Jael wissen. Dann erkannte sie den Mann. „Wir haben Euch vorhin schon einmal gesehen, in der Großen Burg ... Ihr kamt vor uns aus dem Sitzungssaal und...“
„… und Ihr saht nicht besonders glücklich aus“, fügte Zara undiplomatisch hinzu.
Der kleine Mann nickte resigniert. „Ich hatte eine Unterredung mit Godrik, dem Enklavenvorsteher, die nicht ganz ... nun, zufriedenstellend verlaufen ist, um es mal so zu sagen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich, als er daran dachte. Dann blinzelte er, die Resignation verschwand, und er sagte mit einer gewissen Theatralik, die mit diesem ganzen Hokuspokus Hand in Hand zu gehen schien: „Gestattet, dass ich mich vorstelle: Wigalf heiße ich, und ich kann sagen, dass ich hoch erfreut bin, Euch hier zu sehen, denn auch, wenn wir persönlich noch nicht wirklich das Vergnügen hatten, hat sich doch bereits herumgesprochen, weshalb Ihr hier seid.“
„Und weswegen?“, fragte Jael lauernd, gespannt auf die Antwort.
„Ihr seid hier, weil Ihr fürchtet, dass Iliam Zak den Sakkara-Orden neu formiert und dort weitermacht, wo er damals unterbrochen wurde“, sagte Wigalf ruhig. „Nun, was den Sakkara-Orden angeht, habt Ihr sogar Recht, aber Iliam Zak – die Götter seien ihm gnädig – trug dafür keineswegs die Verantwortung.“
Jael blinzelte überrascht. „Woher ...“ Sie wollte fragen, wie zum Teufel er wissen konnte, was sie wirklich hierher verschlagen hatte, doch dann wurde ihr klar, dass der Rest dessen, was Wigalf so geradeheraus gesagt hatte, von viel größerer Bedeutung war. Sie musterte den Zauberer. „Was soll das heißen, wir haben Recht, was den Sakkara-Orden betrifft? Dann formiert sich diese Sekte tatsächlich neu?“ Sie zog in Erwägung, dass der Zauberer womöglich bloß einen Schuss ins Blaue abgegeben hatte, um dahinter zu kommen, was sie hier wollten, doch irgendetwas sagte ihr, dass Wigalf keine Spielchen mit ihnen trieb. Er wusste etwas – und sie wollte herausfinden, was das war.
Wigalf machte es ihr nicht schwer. Jael hatte ihre Frage kaum formuliert, als Wigalf bereits nickte. „Das Gerücht, dass der Magier-Orden von Sakkara neue Anhänger um sich scharrt und wieder erstarkt, ist hier in der Enklave bereits seit Jahren im Umlauf. Anfangs hielten es alle für Unfug; keiner glaubte daran, dass ausgerechnet diese machtgierigen Verbrecher wieder auf dem Vormarsch sein sollten, nach all den Jahrhunderten, in denen unsere Kaste sämtlichem Bösen abgeschworen hat. Eine Zeitlang taten wir so, als wäre alles wie immer. Doch das Ungeheuerliche verlangte Gehör, und irgendwann ließ es sich nicht mehr länger leugnen.“
„Was?“, hakte Zara nach. „Was ließ sich nicht länger leugnen?“
„Dass in Sternental dunkle Mächte am Werk sind“, erklärte Wigalf düster. „Sehr dunkle Mächte. Und starke dazu. Sie sind mitten unter uns. Viele sind ihnen schon zum Opfer gefallen.“
„Ihr meint Blutopfer?“
Wigalf schüttelte düster den Kopf. „Von Blutopfern weiß ich nichts, es sei denn, Ihr meint damit meine Zunftbrüder und -schwestern, die in den letzten Wochen und Monaten durch die Klingen verblendeter Sakkara-Jünger den Tod fanden.“ Seine Worte klangen bedrückend in der kleinen Turmkammer, doch noch bedrückender war die Resignation in seinen Zügen, die sich mit scharfen Furchen in seine Stirn und um seine Augen eingegraben hatte. Es war unmöglich zu sagen, wie alt der Zauberer war – er wirkte, als wäre er Ende Fünfzig, Anfang Sechzig, ein rüstiger älterer Herr, dem man ansah, dass es das Leben nicht immer gut mit ihm gemeint hatte. Doch wenn das Alter für Iliam Zak keine Bedeutung gehabt hatte, mochte das durchaus auch für andere Zauberer gelten.
„Der Kult hat in Sternental Opfer gefordert?“, fragte Jael skeptisch.
Wigalf nickte düster. „Als sich die Magiergemeinschaft offiziell weigerte, die Bedrohung durch den sich neu formierenden Sakkara-Kult anzuerkennen und etwas dagegen zu unternehmen, öffneten wir dem Kult damit Tür und Tor. Die verräterischen Gedanken und trügerischen Doktrinen der Sekte breiteten sich still und schleichend wie eine Seuche in der Enklave aus, und auf einmal gab es überall um uns herum Infizierte. Nicht wenige sind den Verlockungen des Kultes erlegen. Denn auch Zauberer sind nur Menschen – zumindest die meisten von uns –, und die langen Jahre der Verbannung haben in vielen den Wunsch nach freier Entfaltung ihrer Künste geweckt. Der Sakkara-Kult stellt ihnen dies in Aussicht. Das – und noch viel mehr. Und wer nicht bereit ist, dem Kult seine Kräfte zur Verfügung zu stellen, oder sogar soweit geht, seinen Mitgliedern die Stirn zu bieten, wird ohne Gnade aus der Gleichung des Lebens getilgt.“
„Wie viele Opfer gab es?“ Zara bückte sich, griff nach dem umgestürzten Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Wigalf indes zählte die Opfer des Kults halblaut an den Fingern ab, während er die – erschreckend lange – Liste im Geiste durchging. „Neun“, sagte er schließlich. „Und alle wurden auf die gleiche grausige Weise ermordet: Man überfiel sie im Schlaf, in ihren eigenen Betten, und stach ihnen mit einem langen, scharfen Messer die Halsschlagader auf; sie starben in ihrem eigenen Blut.“ Er schauderte, als er daran dachte. „Anfangs war mir nicht ganz klar, welchen Zweck der Kult damit verfolgte, derart öffentlich zu agieren, statt weiter im Verborgenen zu wirken wie all die Jahre zuvor. Doch als die Morde immer weniger wurden, begriff ich es.“
„Einschüchterung“, sagte Zara. „Sie haben die anderen eingeschüchtert, und die haben sich allein schon aus Furcht auf die Seite des Kults geschlagen.“
Wigalf nickte düster.
„Hat der Kult auch versucht, Euch zu rekrutieren?“, fragte Jael.
Wigalf schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß von vielen, die sie kontaktiert und auf ihre Seite gezogen haben, aber mich haben sie in Ruhe gelassen.“
„Warum?“, wollte Falk wissen.
Wigalf zuckte mit den Schultern. „Meine Kräfte sind begrenzt; ich nehme an, ich war ihnen einfach nicht mächtig genug, um an mich heranzutreten. Denn das ist es, worum es bei alledem geht.“
„Worum?“, fragte Falk.
„Um Macht“, sagte Wigalf knapp. „Unendliche, alles umfassende Macht. Danach strebt alles intelligente Leben wirklich. Nicht Geld, nicht Wohlstand, nicht Frauen – Macht... und all die Privilegien, die damit verbunden sind. Die Freiheit, ohne Rücksichtnahme oder Einschränkung alles tun und lassen zu können, wonach einem der Sinn steht. Wenn man diese Freiheit genießt, ist man göttergleich.“
Jael runzelte die Stirn. „Diese Kerle wollen wie Götter sein?“
„Will das nicht jeder?“, fragte Falk. Als seine beiden Begleiterinnen ihn daraufhin grimmig ansahen, fügte er kleinlaut hinzu: „Zumindest, bis man in die Pubertät kommt?“
Der Zauberer tat so, als hätte er es gar nicht mitbekommen. „Nicht alle in Sternental sind für sie von Interesse. Sie nehmen nur die Mächtigsten und Einflussreichsten in ihre Reihen auf, Zauberer, die ihnen noch mehr Stärke und Kraft geben. Wir anderen sind für sie nicht mehr wert als der Schmutz unter ihren Nägeln. Doch wenn man ihnen in die Quere kommt oder ihren Interessen zuwiderhandelt ...“ Er vollführte mit der flachen Hand eine Geste, als würde er sich die Kehle aufschneiden. „Diese Bestien schrecken vor nichts zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Nichts ist ihnen heilig. Selbst er ...“ Sein Blick glitt zu den Überresten von Iliam Zak. „Sogar vor der Ermordung des Gründers und langjährigen Führers der Sekte haben diese Verrückten nicht Halt gemacht.“ Er seufzte. „So zu enden, das hat selbst jemand wie Iliam Zak nicht verdient...“