Jael runzelte die Stirn. „Aber warum sollte der Kult seinen eigenen Führer töten?“, fragte sie. „Das ist doch Wahnsinn!“
Wigalf nickte zustimmend. „Ob Ihr’s glaubt oder nicht, aber Zak war alles andere als erfreut, als er erfuhr, dass der Kult neue Mitglieder um sich scharte; das ging nicht von ihm aus, sondern von seiner ehemaligen rechten Hand, Ishmael Thurlak, einem machtgierigen Egomanen, der Zaks Umsturzpläne seinerzeit nach besten Kräften unterstützte, weil er hoffte, wenn Zak erst auf dem Thron säße, würde auch für ihn ein ordentliches Stück vom Kuchen abfallen. Doch dann kam statt Thron und Zepter Exil und Verbannung, und Thurlak war gezwungen, sich von seinen Machtfantasien zu verabschieden.“
„Doch damit gab er sich nicht zufrieden“, mutmaßte Jael.
„Nein“, bestätigte Wigalf. „Er hat sich nie wirklich damit abgefunden, dass ihr Vorhaben gescheitert war, und irgendwann fing er an, die Fühler nach möglichen Verbündeten auszustrecken. Und er brauchte nicht lange zu suchen. Die Enklave ist voll von solchen, die nur auf jemanden wie Thurlak gewartet haben, der gegen all das, was man unsereins tausend Jahre lang aufgezwungen hat, aufbegehrt.“ Er knetete mit zwei Fingern seine Knollennase. „Dort, wo Unmut und Unzufriedenheit regieren, findet Widerstand schnell Anhänger. Das war schon immer so, seit Anbeginn der Zeit. Nur, dass nicht aller Widerstand gut und sinnvoll ist.“
„Und als dieser...“
„Ishmael Thurlak“, sagte Wigalf.
„Ishmael Thurlak“, wiederholte Zara. „Als dieser Kerl eines Tages bei Zak anklopfte und ihn bat, da weiterzumachen, wo er damals aufgehört hatte, da weigerte sich Zak?“
Wigalf nickte. „Zak und Thurlak hatten eine schlimme Auseinandersetzung deswegen. Zak wollte, dass Thurlak die Vergangenheit ruhen ließ und sein Leben nach den neuen Doktrinen der Magierbruderschaft ausrichtete, so wie er selbst es in den letzten Jahrzehnten getan hatte.“
„,Der Weg, der uns weiterbringt, ist auch der Weg, der nach innen führt‘“, murmelte Jael.
Wigalf nickte. „Das hatte Iliam Zak begriffen. Er war nicht mehr der große Buhmann, als der er gern hingestellt wird. Ohne Frage, er hat Fehler begangen – viele Fehler, und einige davon sind unverzeihlich –, doch er hatte ein halbes Millennium Zeit, über seine Untaten nachzudenken und Läuterung zu erfahren, und auch, wenn er nie ein Heiliger geworden wäre, so war er doch auf dem Weg der Besserung.“ Sein Blick richtete sich auf die verstümmelte Leiche. „Zak hatte seinem ehemaligen Irrglauben schon seit langem abgeschworen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass freier Wille das höchste Gut ist in dieser oder einer anderen Welt. Als Ishmael Thurlak herkam und ihm erklärte, er hätte ihm, Iliam Zak, den Weg geebnet, um endlich seinen göttergegebenen Platz an der Spitze der bekannten Welt einzunehmen, hatte Zak nur Abscheu und Verachtung für seinen ehemaligen Novizen übrig. Zak sagte Thurlak gerade heraus, er solle sich in den Orkus scheren und seine irregeleiteten Anhänger dorthin mitnehmen, doch so erbost Ishmael Thurlak über diese Ablehnung im ersten Moment gewesen sein mag, so sehr gefreut haben muss es ihn später, als ihm bewusst wurde, dass sich Zak damit sein eigenes Grab geschaufelt hatte und er, Thurlak, nicht mehr als Bittsteller der Macht auftreten musste, sondern selbst die Macht haben konnte – die ganze Macht, keine Almosen von der Tafel seines Mentors Iliam Zak. Und so ließ er ihn ebenso aus dem Weg räumen wie die anderen Missliebigen, auch wenn er in diesem Fall offenbar der Meinung war, es wäre ratsamer, es wie einen Unfall aussehen zu lassen.“
Wieder schweifte Wigalfs Blick zu Zaks verstümmeltem Leichnam. „Vielleicht musste es so enden“, murmelte er, „nach allem, was er auf sich geladen hat. Und doch ... er hat versucht, hier in der Enklave in ein ehrbares Leben zurückzufinden. Doch er war ein Ausgestoßener, ein Gebrandmarkter, und da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, um nicht selbst in Verruf zu geraten, zog sich Zak hierher in seinen Turm zurück, bis er sich schließlich gar nicht mehr in Sternental blicken ließ. Ich glaube, ich war der Einzige, der sporadisch Kontakt mit ihm hatte.“
„Warum?“, fragte Jael.
Wigalf wiegte den Kopf. „Nun, in gewisser Weise führe auch ich ein Leben, wie Zak es tat – zurückgezogen und mit Abstand zur übrigen Enklave –, bloß dass ich dieses Schicksal freiwillig wählte, als ich die Überheblichkeit und Arroganz des Rates der Bruderschaft nicht mehr ertragen konnte. Doch jeder Mensch braucht hin und wieder jemanden, mit dem er reden und sich austauschen kann, und da auch Iliam eine einsame Seele war, führte uns das zusammen. Anfangs war ich skeptisch, da auch ich all die Geschichten über seine Gräueltaten kannte, doch in dem Maße, wie ich spürte, dass er wirklich versuchte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, lernte ich seine Gesellschaft mehr und mehr zu schätzen, und am Ende trafen wir uns hin und wieder. Doch der Weg hierher ist weit, und ich bin nicht der Beste zu Fuß.“ Er klopfte mit dem Stock auf, und das Dröhnen hallte hohl in dem verlassenen Turm wider. „Hätte mich mein Weg häufiger hierher geführt, hätte ich ihn wohl schon vor Monaten gefunden.“
Jael gab ein nachdenkliches, missmutiges Brummen von sich. Die Seraphim schien über die neuesten Erkenntnisse alles andere als erfreut. Kein Wunder. Als sie hierher gekommen waren, hatten sie angenommen, dass Iliam Zak der Drahtzieher der Verschwörung wäre, womöglich unterstützt von einer Hand voll versprengter, von der Macht geblendeter Einzeltäter. Doch jetzt zeigte sich, dass er von seinen eigenen Anhängern ermordet worden war, weil er ihnen bei ihrem aberwitzigen Vorhaben im Weg gewesen war. Da draußen hatten womöglich Dutzende von Zauberkundigen unter einem neuen, scheinbar noch skrupelloseren Führer den Weg eingeschlagen, dem Iliam Zak im Exil abgeschworen hatte. Alles wies darauf hin, dass diese Verschwörung noch weit größere Kreise zog, als sie zimächst angenommen hatten – viel größere. Die Blutbestien waren nur der Anfang gewesen.
Doch noch immer wussten sie nicht, wie dieser Ishmael Thurlak und seine Anhänger ihr Ziel erreichen wollten, die Macht in Ancaria an sich zu reißen. Die Dunklen Künste zu beherrschen, war eine Sache; sie gezielt einzusetzen, eine ganz andere.
Jael dachte eine Weile schweigend darüber nach. Schließlich sah sie den Zauberer an und sagte geradeheraus: „Warum erzählt Ihr uns das alles?“
„Ja“, murmelte Zara, „das wüsste ich auch gern.“
„Weil irgendjemand etwas dagegen unternehmen muss“, antwortete Wigalf. „Von Godrik und seinem Rat der Bruderschaft ist keine Hilfe zu erwarten; gerade vorhin, als wir uns in der Großen Burg getroffen haben, war ich beim Rat und habe versucht, sie dazu zu bewegen, endlich aktiv zu werden, doch vergebens. Godrik will davon nichts hören. Sie verschließen weiterhin ihre Augen vor der Wahrheit – wahrscheinlich, weil sie sie einfach nicht sehen wollen oder um zu verhindern, dass etwas über die verderblichen Vorgänge in Sternental nach außen dringt und so auf einen Schlag all die Jahrhunderte langen Bemühungen der zaubernden Zunft, sich zu rehabilitieren und wieder in die Gesellschaft von Ancaria aufgenommen zu werden, zunichte gemacht werden. Vielleicht stellen sie sich aber auch nur blind, weil sie längst selbst treue Anhänger des Sakkara-Kults sind. Seine Mitglieder sind mitten unter uns, und nicht bei allen ist ihre Gesinnung offensichtlich. Inzwischen könnte jeder dem Orden anhängen, wirklich jeder. Und genau das macht es so schwierig, etwas gegen diese Verräter der Magie zu unternehmen; es ist unmöglich zu sagen, wem man noch vertrauen kann und wem nicht. Man kann niemandem hier mehr trauen, am allerwenigsten den Mächtigen. Denn Macht, das hat die Geschichte uns mehr als einmal gelehrt, verlangt immer nur nach noch mehr Macht.“
Zara verlagerte auf dem Stuhl ihr Gewicht; Glassplitter knirschten unter den Stuhlbeinen. „Ihr redet die ganze Zeit von Macht und davon, dass der Kult die Herrschaft an sich reißen will. Aber was genau führen die Sakkara-Anhänger im Schilde? Wie wollen sie dieses Ziel erreichen?“