Plötzlich ging eine seltsame Veränderung mit ihm vor; auf einmal fiel der traurige, leicht schwächliche Ausdruck von ihm ab und machte einem breiten, diabolischen Grinsen Platz, das so gar nicht zu diesem schüchternen, beinahe linkisch wirkenden Mann passen wollte.
„Oder zumindest ich bin da, wo ich hingehöre!“, rief er. „Ihr hingegen habt jetzt noch eine Reise vor Euch – Eure letzte Reise!“
Mit diesen Worten reckte der Zauberer die Arme gen Himmel, legte den Kopf in den Nacken und rief mit lauter, weithin hallender Stimme Worte in einer toten Sprache zum Sternenlosen Firmament empor, gutturale, abgehakte Silben, die sich zu einem grausigen Kauderwelsch vereinten, das keiner Sprache glich, die Zara je vernommen hatte:
„Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhtagn! Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhlogn!“
Und dann noch einmal, in einer tieferen, irgendwie vielstimmigen Tonlage, fast so, als würden auf einmal viele Stimmen aus Wigalf sprechen, nicht bloß seine eigene:
„Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhtagn! Ph’nglui mglw’nafh Sakkara A’ncarya wgah’nagl fhlogn!“
Sobald die letzte Silbe des Zauberspruchs über seine Lippen war, zuckte ein gewaltiger, gezackter Blitz über den Himmel, begleitet von einem krachenden Donnerschlag, den man ebenso in seinen Eingeweiden fühlte wie hörte; flackerndes weißes Licht tauchte das verwaiste Gräberfeld einen Moment lang in blendende Helligkeit; die Umrisse der Grabsteine und Bäume traten schlaglichtartig hervor, grelle Impressionen in der allumfassenden Helligkeit.
Dann senkte sich von neuem Dunkelheit über den Friedhof, doch es schien, als wäre die Nacht auf einmal schwärzer als zuvor, und der Nebel über den Gräbern glomm plötzlich in einem matten, kranken Grün, nur hier und da vom Rot der Ewigen Lichter in waberndes Blut verwandelt.
Zara brauchte einen Moment, um ihre Überraschung zu überwinden. Das Grollen des Donners noch in den Ohren, starrte sie Wigalf beim Tor finster an. Der Zauberer hatte die Arme sinken lassen, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Zauberstock und erwiderte Zaras grimmigen Blick mit ungerührtem Gleichmut, als sie grollte: „So viel dazu, dem Leben selbst zu dienen, hm?“
Wigalf grinste breit und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wie ich schon sagte: Man kann niemandem in Sternental mehr trauen!“ Seine Worte troffen vor Spott und Häme.
In Zara wallte unbändiger Zorn auf. Sie wollte sich gerade auf Wigalf stürzen, der keine zehn Meter entfernt stand – drei, vier lange Schritte, mehr nicht –, als mit einem Mal eine halb verweste Hand mit Wucht die Erde des Grabs durchstieß, neben dem Zara stand.
Die schmutzigen knochigen Finger packten zielsicher ihren rechten Knöchel, um sich mit der Kraft eines Schraubstocks darum zu schließen.
Zara stieß einen überraschten Laut aus, und bevor sie reagieren konnte, folgte der halb skelettierten Hand bereits ein halb verwester Kopf mit leeren Augenhöhlen. Die Reste alter Haut spannten sich straff und gelb wie altes Pergament über den teilweise frei liegenden Schädel, und als sich der Tote Stück für Stück aus seinem Grab wühlte, rieselte Erde aus den schulterlangen verfilzten Strähnen, die von seiner einstigen Haarpracht noch übrig waren. Der Tote stieß abgehackte Laute aus, die ähnlich klangen wie die des Zauberers. Es schien, als würde er dem Ruf Wigalfs antworten, der ihn zu untotem Leben erweckt hatte.
„Grundgütiger ...“, raunte Falk irgendwo hinter ihr fassungslos.
Zara achtete nicht auf ihn. Mit ekelverzerrtem Gesicht wich sie hastig einen Schritt zurück, doch der Untote hielt mit seiner Knochenhand ihren Fuß fest, während er sich ungelenk aus seinem Grab wühlte; schon war er bis zur Hüfte frei. Der „Blick“ seiner leeren Augenhöhlen richtete sich auf die Vampirin, und die Kiefer öffneten und schlössen sich, und jedes Mal, wenn die Zähne aufeinander schlugen, gab es ein klackendes Geräusch.
Gut möglich, dass dieser Bursche schon eine ganze Weile tot war, doch es steckte noch immer jede Menge unseliges Leben ihn ihm – und seine Kiefer verlangten nach etwas zu beißen!
Fluchend zog Zara ein paar Mal heftig an ihrem Fuß, um ihn aus der Klaue des Untoten zu befreien, der sich grunzend aus seinem Grab wand, doch der Griff des Zombies war eisenhart; erst als Zara statt zu ziehen mehrmals mit voller Wucht gegen den Knochenschädel des Untoten trat, stieß der Zombie ein irgendwie unwilliges, erdiges Grummeln aus, und die unbarmherzige Klammer seiner Finger öffnete sich soweit, dass Zara ihren Fuß freibekam.
Sie stand fassungslos da, starrte den Toten schockiert an und versuchte zu begreifen, was sie da sah, genau wie ihre Begleiter, die nicht minder geschockt waren als die Vampirin. Selbst Jael, die in ihrem langen ereignisreichen Leben schon viel Absonderliches gesehen hatte, verschlug es die Sprache.
Dann war der Untote seinem Grab entstiegen, schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und schleuderte Erdklumpen und Gewürm von sich, ehe sich die untote Fratze wieder Zara zuwandte, so zielsicher, wie sich ein Kompass immer nach Norden ausrichtet. An seinem ausgezehrten verwesten Körper hingen noch die schmutzigen Überreste des Umhangs, in dem man ihn beigesetzt hatte.
Der Untote stieß ein wütendes feuchtes Fauchen aus und schlurfte in seltsam verkrümmter Haltung auf Zara zu, ein Bein wie gelähmt hinter sich herziehend, eine Hand gierig nach der Vampirin ausgestreckt, die spinnenartigen Finger zuckend vor Verlangen.
„Bei allen Göttern“, raunte Falk hinter ihr. Er war starr vor Entsetzen. „Was ... was ist das für ein ... Ding?“
Niemand antwortete ihm. Stattdessen griff Zara mit der rechten Hand über ihre linke Schulter und zog mit einer raschen Bewegung eines ihrer Schwerter aus den Lederschneiden, indes sich der durch schwärzeste Magie wieder zum Leben erweckte Tote gierig näherte. Seine Zähne klappten unablässig aufeinander – Klapp-klapp! Klapp-klapp!
Als er Zara fast erreicht hatte, riss er sein Maul weit auf und fauchte; ein Ekel erregender Verwesungsgestank schlug der Vampirin entgegen. Seine Finger zuckten vor, auf Zaras Gesicht zu, doch bevor seine langen, schmutzigen Nägel ihr Antlitz berühren konnten, schlug Zara zu – und trennte dem Untoten mit einem einzigen wuchtigen Hieb den Kopf vom Rumpf.
Der Schädel wackelte noch einen Moment auf dem durchtrennten Hals, als wüsste er nicht recht, ob er wirklich fallen sollte; dann kippte er vornüber, schlug mit einem widerlich fleischigen Laut auf die hart gefrorene Erde und rollte noch ein paar Schritte weiter. Der kopflose Leib wankte ungelenk ein Stück nach vorn, bevor die Beine schließlich unter der Leiche nachgaben und der Untote zu Boden ging, um reglos zu Zaras Füßen liegen zu bleiben.
Das Schwert halb erhoben, die schimmernde Klinge befleckt mit einem widerlichen öligschwarzen Schleim, stand Zara da und starrte voller Abscheu auf die ungeheuerliche Abnormität vor sich herab. Natürlich wusste sie, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als die ancarianische Schulweisheit sich träumen ließ – sie selbst war der wandelnde Beweis dafür –, doch so unmittelbar damit konfrontiert worden wie in den vergangenen Tagen war sie noch nie. Es war eine Sache, zu wissen, dass es solche Monstren wie die Blutbestien, die Monsterspinne oder jetzt diesen Untoten hier gab – aber sie mit eigenen Augen vor sich zu sehen und sogar zu riechen, das war etwas vollkommen anderes.
Falk schien es ähnlich zu ergehen. Er trat vorsichtig neben Zara, als hätte er Angst, der kopflose Rumpf könne nach ihm greifen, und sagte wieder: „Was, zum Geier, ist das für ein Ding?“
„Ein Zombie“, sagte Jael endlich. „Ein lebender Toter, allein von dem Drang beseelt, zu fressen und seinem Meister zu gehorchen.“ Bei der Erwähnung des „Meisters“ warf sie unwillkürlich einen Blick hinüber zum Tor des Friedhofs, wo Wigalf noch immer seelenruhig auf seinen Stock gestützt stand, und noch immer hatte er dieses böse, selbstgefällige Grinsen auf den Lippen. „Ich habe davon gehört, dass die Dunklen Götzen während der Götterkriege ganze Armeen dieser seelenlosen Geschöpfe ins Leben zurückgerufen haben, um sie für sich kämpfen zu lassen, doch ich hätte niemals gedacht, dass noch jemand anderes als die Götter selbst die Macht besitzen, Tote aus den Gräbern zu rufen.“ Ihr Blick wich keine Sekunde von Wigalf. „Wenn diese Kerle dazu im Stande sind, ist nicht auszudenken, wozu sie sonst noch fähig ...“ Sie verstummte, als hinter ihnen plötzlich ein vertrautes Geräusch erklang.