Doch Falk gab sich damit nicht zufrieden. Offenbar wollte es einfach nicht in seinen Kopf, dass es so enden sollte, und je trotziger er darauf beharrte, dass sie irgendetwas tun müssten, egal was, desto mehr gewahrte Jael, dass sie nichts tun konnten, absolut nichts.
Als Falk einfach nicht den Mund hielt, wirbelte sie schließlich mit zorniger Miene zu ihm herum, deutete drohend mit dem Zeigefinger auf ihn und blaffte böse: „Jetzt hör mir mal zu, du vorlauter Wicht: Wir können keinen Gegner bekämpfen, von dem wir nicht wissen, wo wir ihn finden! Wir haben unseren Teil getan, um das Schlimmste zu verhindern, aber es hat nicht genügt. Wir haben versagt, und je eher du das begreifst, desto besser!“
Falk zuckte erschrocken vor ihr zurück, überrascht über die unerwartet heftige Reaktion der Seraphim. Doch Zara hatte vollstes Verständnis für Jael. Die Seraphim war nicht wütend auf Falk – sie war einfach bloß verzweifelt, weil er Recht hatte; mit jedem Wort hatte er Recht, und genau das war es, das die Seraphim fast wahnsinnig machte.
Sie müssten etwas unternehmen, und sie waren bereit dazu, gleichgültig, welche Konsequenzen das für sie selbst haben würde – doch es gab einfach nichts, was sie tun konnten.
Diese Erkenntnis war einfach niederschmetternd.
Und es gab keinen Grund, darüber nicht frustriert zu sein.
Sie gingen schweigend weiter. Jenseits der Obelisken erstreckte sich die blühende Wiese bis zum Fuße des Gebirges, das grau und stoisch in den Himmel ragte, die Gipfel so wolkenverhangen wie eh und je, und mit einem Mal kamen ihnen die Mühen und Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, hierher zu gelangen, so unglaublich vergebens vor. Was hatte das alles für einen Sinn gehabt, wenn sie am Ende doch nichts tun konnten? Wäre es angesichts dessen nicht vielleicht besser gewesen, gar nichts von alldem zu wissen, so ahnungslos zu sein wie der Rest der Bevölkerung? Wissen ist nicht immer ein Segen, das wusste Zara schon lange, doch so deutlich wie in diesem Moment hatte ihr diese Weisheit noch nie vor Augen gestanden.
Sie schickten sich gerade an, die Obelisken und damit die Stadtgrenze von Sternental zu überschreiten, als Zara in den dräuenden schwarzen Schatten der Gasse zwischen den beiden letzten, dicht zusammenstehenden Häusern eine verstohlene Bewegung bemerkte, wie von jemandem, der nicht gesehen werden wollte, und unwillkürlich kamen ihr Godriks Worte in den Sinn: „Ihr seid nicht länger in Sternental willkommen, und ich übernehme keinerlei Verantwortung für etwaige Fährnisse, die Ihr womöglich erleidet, wenn Ihr hierbleibt...“
„Achtung!“, sagte Zara so beiläufig wie möglich.
Doch es hätte ihrer Warnung nicht bedurft, denn auch den anderen war die Bewegung in der Gasse nicht entgangen. Falk griff instinktiv nach seinem Messer, während sich Thors Nackenhaare zu einer drahtigen grauschwarzen Bürste aufstellten und sich seiner Kehle ein drohendes Knurren entrang. Doch Zara bedeutete Falk mit einem unmerklichen Kopfschütteln, seine Klinge stecken zu lassen, und einen Moment später sah dieser auch, warum.
Der Mann, der unsicher zwei Schritte aus den Schatten zwischen den beiden Häusern trat, um sich ihnen zu offenbaren, war Salman, der Zauberer. Er sah sich nervös nach allen Seiten um, die Wangen voller hektischer roter Flecken. Er wirkte, als würde er jeden Moment damit rechnen, vom Blitz getroffen zu werden. Er gab ihnen ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten. Sein Blick schweifte einen Moment lang über die Hausdächer zur Burg. Dann zog er sich schnell wieder ins düstere Zwielicht der Gasse zurück, wie um dem allsehenden Blick der Burg zu entgehen.
Die Gefährten folgten ihm in die Gasse, wo Salman niedergeschlagen und mit hängenden Schultern auf einem alten Essigfass saß. Als sich die drei näherten, hob er den Kopf, und obwohl er ängstlich und übervorsichtig wirkte, machte er doch den Eindruck, als habe er für sich selbst eine Entscheidung getroffen.
„Wenn Godrik wüsste, dass ich mit Euch rede, würde man mich in der Enklave fortan wie einen Aussätzigen behandeln“, sagte er zur Begrüßung und schaute sich noch einmal ängstlich um, als fürchtete er, der Enklavenvorsteher könnte jeden Moment aus den Schatten in die Gasse springen.
„Ich glaube nicht, dass Ihr Euch darüber Sorgen zu machen braucht, angesichts des Umstands, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht“, sagte Zara spöttisch. Während sie mit einer Hand Kjell am Zügel hielt, lag ihre andere Hand auf Thors wuchtigem Haupt, um den Wolf zu beruhigen, der noch immer leise knurrte; er traute Salman nicht.
Salman schaute sie an, dann wandte er sich Jael zu, und ein Ausdruck ehrlichen Bedauerns trat in seine Züge, als er sagte: „Ihr hattet Recht mit dem, was Ihr oben im Zeremoniensaal gesagt habt – mit allem, auch dem, was Godrik betrifft. Anfangs haben wir einfach nicht wahrhaben wollen, dass der Kult ausgerechnet in unserer Mitte wieder Fuß fasst, nach all den Jahrhunderten, die wir damit zugebracht hatten, statt der Verbotenen Künste der Wissenschaft zu huldigen und uns von dem Ruf reinzuwaschen, uns mit Hilfe unserer Fähigkeiten Privilegien und Macht zu erschleichen, die uns von Rechts wegen nicht zustehen. Keiner von uns wollte die Wahrheit erkennen. Doch spätestens, als wir die ersten Toten aus unserer Mitte zu Grabe tragen mussten, regte sich Misstrauen. Einige von uns – wenn auch nicht viele – waren nicht länger bereit, die Augen vor dem zu verschließen, was sich nicht länger leugnen ließ. Wir wollten der Angelegenheit nachgehen und das Übel ausmerzen. Aber Godrik sprach sich dagegen aus. Er sagte, es wäre dumm, die Pferde scheu zu machen, solange wir nicht die Gewissheit hätten, dass die Gerüchte tatsächlich wahr wären. Er wollte nicht, dass etwas von alldem nach außen drang, wollte unserem Ruf nicht noch mehr schaden, solange es keinen triftigen Grund dafür gab. So behauptete er – doch in Wahrheit, so glaube ich, hat er einfach nur Angst.“
Zara runzelte die Stirn. „Angst wovor?“
Salman wiegte den Kopf. „Davor, versagt zu haben, natürlich. Godrik ist nun mal der Enklavenvorsteher – einer in einer langen Reihe von Vorstehern, von denen jedoch keiner je mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte wie Godrik jetzt, und wenn doch, dann wurde immer alles so erledigt, dass es niemand mitbekam. Godrik trägt die Verantwortung für alles, was hier in Sternental geschieht. Sich einzugestehen, dass das Böse allein durch seine Weigerung, es anzuerkennen, wieder erstarkt ist, ist seine größte Schmach.“
„Ist das nicht gerade die größte Stärke des Bösen?“, murmelte Zara. „Uns glauben zu machen, dass es das Böse gar nicht gibt?“
Statt darauf einzugehen, sagte Jaeclass="underline" „Das erklärt noch nicht, warum ihr – die anderen Zauberer – Godrik so hündisch ergeben seid. Warum hat niemand gegen ihn aufbegehrt, wenn ihr genau wusstet, dass seine Entscheidungen falsch sind?“
„Weil Godrik der Enklavenvorsteher ist“, erklärte Salman ungeduldig, als müsste das jedem klar sein. „Er ist die oberste Autorität in Sternental. Sein Wort ist Gesetz. Es gibt keine Wahrheit außer der seinen.“ Er hob mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern. „Wahrscheinlich kann das keiner nachvollziehen, der unser Schicksal nicht teilt, aber wenn man Hunderte und Aberhunderte Jahre im Exil verbracht hat, inmitten derselben hundert Häuser, tagaus, tagein umgeben von denselben Gesichtern, denselben Personen, die man bereits seit Ewigkeiten erträgt, dann ändert sich das Denken, die gesamte Einstellung eines Menschen, und man wird lethargisch.“ Er seufzte traurig, doch Jael beabsichtigte nicht, ihn weiterhin in Selbstmitleid schwelgen zu lassen – das hatte der Zauberer schon viel zu lange getan.
„Wenn Ihr Informationen für uns habt, die uns dabei helfen könnten, eine Katastrophe zu verhindern, dann sprecht“, forderte sie. „Uns läuft die Zeit davon, und wenn Ihr uns nicht helfen könnt, gibt es keinen Grund, die wenige, die wir haben, mit Euch zu verschwenden.“