„Was ist mit den anderen Zauberern?“, fragte Jael. „Jenen, die bereit sind, gegen den Kult vorzugehen? Werden sie uns helfen?“
Salman zuckte mit den Schultern. „Bedaure, aber Ihr solltet nicht auf Unterstützung zählen – Eure Hoffnung wäre vergebens.“
Jael hatte noch weitere Fragen – Dutzende sogar –, doch ehe sie noch dazu kam, eine einzige zu stellen, wirbelte Salman in einem Anflug von nackter Panik herum, riss sich dabei los und eilte mit ausgreifenden Schritten durch die Hauptgasse davon. Die Seraphim überlegte, ihn erneut aufzuhalten, aber sie ahnte, dass es keinen Sinn haben würde; Salman war durch das Auftauchen des Vogels derart beunruhigt, dass ihm die Angst schier aus den Augen leuchtete. Er ergriff vor dem Raben förmlich die Flucht, der just in diesem Moment krächzend und flügelschlagend von der Dachrinne aufstieg.
Salman beschleunigte seine Schritte, bis er lief. Beinahe konnte man meinen, der Mann hätte Todesangst, und vielleicht stimmte das sogar.
Zara wandte ihre Aufmerksamkeit dem Raben zu, der mit langsamen Schlägen seiner großen schwarzen Schwingen durch die Lüfte schwebte, in Richtung der Großen Burg, und wieder kam ihr in den Sinn, dass das, was sie für einen Vogel hielten, vielleicht etwas ganz anderes – jemand anderes – war. Dann verschwand der Rabe hinter den Schornsteinen, und nur noch das Klappern von Salmans Stock auf dem Kopfsteinpflaster, das seinen übereilten Abgang begleitete, war zu hören.
„Was, wenn das wieder eine Falle ist?“, sagte Falk nachdenklich. „So wie die Sache mit Wigalf und dem Friedhof? Was, wenn wir bereits von einer Horde Sakkara-Priester oder Höllendämonen oder noch Schlimmerem erwartet werden, wenn wir in Drakenschanze aufkreuzen?“
„Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen“, sagte Jael, plötzlich wieder so resigniert wie zuvor. Vor Salman hatte sie sich zusammengerissen, um sich den Sturm der Emotionen, der in ihr tobte, nicht anmerken zu lassen. Nun waren die drei Gefährten und der Wolf wieder unter sich, und die Verzweiflung schwappte erneut über Jael hinweg, wenn auch nun aus einem anderen Grund als zuvor. „Selbst wenn das Ritual wirklich in Drakenschanze stattfindet, was in keinster Weise sicher ist ... es ist vorbei.“ Sie stieß ein müdes Seufzen aus und lehnte sich gegen die brüchige Hauswand, als wäre sie mit einem Mal zu schwach, um sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. „Das war’s. Hier endet unsere Reise – und diesmal endgültig.“
Falk sah sie verwirrt an. „Häh?“, war alles, was er dazu sagen konnte.
„Drakenschanze ist einen Wochenritt von hier entfernt“, erklärte Zara, als sie seinen fragenden Blick bemerkte. „Mindestens. Der Ort liegt jenseits des Gebirges, tief in den Sümpfen der Dunklen Gebiete, noch ein gutes Stück weiter nördlich als Moorbruch, zwischen Schönblick und Finsterwinkel. Wir können niemals rechtzeitig dort sein, um das Ritual zu verhindern! Und deshalb ...“ Wieder dieses müde, traurige Seufzen. „Deshalb ist es für uns unmöglich, noch einzugreifen. Am besten kehren wir in die Schenke ein, bestellen uns Met, betrinken uns bis zum Umfallen und warten darauf, dass das Ende auch uns erreicht. Denn verhindern können wir es nicht.“
„Aber das kann es nicht gewesen sein!“, widersprach Falk trotzig. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, um hierher zu gelangen, kann es nicht so enden!“ Er sah die Vampirin an, doch Zara zuckte bloß mit den Schultern, als spielte es keine Rolle, was er dachte, und auch Jael schwieg, doch ihre niedergeschlagene Miene verriet, dass die Seraphim derselben Meinung war wie die Vampirin.
Sie konnten die „letzte Stunde“ nicht verhindern.
Aus. Ende. Vorbei ...
Der alte Falk, der bloß an sich selbst und seinen Schnitt dachte und sich nie um die Belange anderer geschert hatte, hätte sich Zaras Meinung vermutlich angeschlossen und sich schon mal Gedanken darüber gemacht, wie man sich mit der neuen Ordnung am vorteilhaftesten arrangieren könnte. Aber der neue Falk – der Falk, der beweisen wollte, dass er doch etwas wert war; der Falk, der die Welt retten wollte – war nicht bereit, so schnell aufzugeben.
„Aber irgendwie müssen die Verschwörer auch dorthin gelangt sein“, sagte er. „Egal, wie weit Drakenschanze von hier entfernt ist, es muss einen Weg geben, um schnell dorthin und wieder zurückzugelangen. Ich meine, wenn plötzlich einige der Zauberer aus der Enklave zwei Wochen lang fehlten, nur um mal eben an irgendwelchen schwarzmagischen Ritualen in den Sümpfen teilzunehmen, wäre das selbst so einem Ignoranten wie Godrik aufgefallen, und dann hätte Salman vermutlich auch was darüber gesagt.“ Seine Stirn legte sich in Furchen, als er angestrengt darüber nachdachte. Dabei brabbelte er halblaut vor sich hin: „Aber wie nur? Was ist der Trick? Wie haben sie da gema...“ Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen, und als er den Kopf wieder hob, grinste er über das ganze Gesicht.
„Magische Portale und wie man sie öffnet!“, sagte er triumphierend.
Jael sah ihn irritiert an. „Wie? Was?“
„Dieses Buch lag in Zaks Turmkammer auf dem Tisch“, erklärte Falk, mit einem Mal ganz aufgedreht. „Magische Portale und wie man sie öffnet. Ich nehme an, dass das Buch nicht einfach so in der Kammer lag, sondern weil Zak es dorthin gelegt hat; weil Zak es womöglich benutzt hat!“ Er war so begeistert von seiner Idee, dass seine Augen vor kindlicher Freude leuchteten. „Zak hat mit Hilfe dieses Buchs magische Portale geöffnet, um ohne Zeitverlust von seinem Turm zu jedem beliebigen anderen Ort im Königreich zu reisen. Damm haben ihn über die Jahre auch immer wieder Leute in irgendwelchen Regionen von Ancaria gesehen!“, hielt er Jael vor, als wollte er sie anklagen, dass die Seraphim nicht selbst schon längst auf diesen Gedanken gekommen war. „Weil er wirklich dort war, und zwar mit Hilfe von magischen Portalen. Und wenn Iliam Zak dazu im Stande war, durch ein solches Portal an jeden beliebigen Ort des Königreichs zu gelangen, dann können wir das auch!“ Falk grinste. „Es ist noch nicht zu spät!“, sagte er aufgeregt. „Noch haben wir eine Chance!“
Jael und Zara wechselten einen Blick, und Zara schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern, so als wäre sie bereit, Falks Theorie durchaus in Betracht zu ziehen.
Doch Jael schien von dem Gedanken, sich durch ein magisches Portal an einen anderen Ort zu begeben und sich damit Mächten auszusetzen, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen, nicht im Mindesten angetan. „Selbst wenn Zak tatsächlich wusste, wie man magische Portale zu anderen Orten öffnet, heißt das noch lange nicht, dass wir dazu ebenfalls in der Lage sind“, sagte sie ernst. „Magie erfordert nicht nur das Wissen um die Dunklen Künste, sondern von demjenigen, der sie anwendet, auch ein gewisses Maß an natürlichem Talent. Das ist nichts, was man erlernen kann. Man muss dafür zaubern können. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen, und zwar mir allen Konsequenzen.“
Ihr Blick glitt über die Dächer der Gasse empor zur Spitze der Großen Burg, die jetzt, da sie wussten, dass auch der Zauber von Sternental ein ebenso flüchtiger wie trügerischer war, nicht mehr halb so majestätisch und erhaben wirkte wie bei ihrer Ankunft. „Es geht hier nicht darum, ein Kaninchen aus einem Hut zu ziehen oder irgendwelche Kartentricks vorzuführen“, sagte Jael nachdenklich und – so schien es – mehr zu sich als zu ihren Begleitern. „Das hier ist kein Hokuspokus. Man lässt sich mit Kräften ein, die weit jenseits unseres Verständnisses und unserer Vorstellungskraft liegen. Zauberei ist nicht für normale Menschen bestimmt, auch nicht für Vampire oder für ein Wesen wie mich.
In diesem Fall jedoch ...“, sagte die Seraphim, und als sie sich jetzt ihren Gefährten zuwandte, blitzte zum ersten Mal seit Stunden so etwas wie Hoffnung in ihren Augen. „In diesem Fall scheint es, als hätten wir gar keine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen, um Schlimmeres zu verhindern. Hoffen wir bloß, dass einer von uns genug Zauber besitzt, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein!“