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IX.

Als die Gefährten Iliam Zaks Turm erreichten, war es Sommer. Jenseits des Waldes blühten die Feldblumen, die Bäume auf den Wiesen fingen an, Früchte zu tragen, und Mücken sirrten über dem Bachlauf, als sie durch die Brücke ritten. Es war angenehm warm – so warm, wie es in Sternental jeden Tag am frühen Nachmittag wurde –, doch selbst die Wärme dieses Sommernachmittags konnte die Gänsehaut nicht vertreiben, die sich beim Anblick von Iliam Zaks Turm unwillkürlich auf Zaras Unterarmen bildete. Es war ein seltsames Bild. Als sie letzte Nacht hierher gekommen waren, schneite es, die Lichtung rings um den windschiefen Turm war weiß, und an den Fenstern des Gemäuers blühten Eisblumen. Jetzt hingegen war die Lichtung grün und voller Blumen.

Doch die Schatten der Nacht hatten auch ihr Gutes gehabt, denn im matten Zwielicht des Tages wirkte der Turm weit mehr wie eine Ruine als in der vergangenen Nacht, als die Dunkelheit ein schmeichelndes Tuch um ihn gebreitet hatte. Das Mauerwerk war spröde und bröckelig, die Schindeln saßen schief auf dem Dach, und die Aura von Trostlosigkeit und Düsternis, die von dem Turm ausging, wurde durch die Helligkeit nur noch mehr betont.

Doch so düster der Ort auch wirken mochte, es gab keinen Anlass zur Sorge – der Bewohner des Turms lag noch genauso tot und verwesend oben in der Turmkammer, wie sie ihn zurückgelassen hatten, als sie zusammen mit Wigalf zum Friedhof aufgebrochen waren. Davon konnten sie sich mit eigenen Augen überzeugen, doch anders als bei ihrem letzten Besuch hatten sie kaum einen Blick für den Leichnam. Das Einzige, was Zara im Zusammenhang mit Zak in den Sinn kam, war, ob sich Godrik und der Rat der Bruderschaft nun, da sie wussten, dass er tot war, um ein angemessenes Begräbnis für Zak kümmern würden oder ob sie vorhatten, ihn hier einfach liegen zu lassen, bis die Natur ihnen diese Aufgabe abgenommen hatte.

Wenn der morgige Tag anbrach, ohne dass es ihnen gelungen war, die „letzte Stunde“ abzuwenden, stellte sich nicht einmal mehr diese Frage.

Nicht zuletzt deshalb verloren sie keine Zeit. Mit zielstrebigen Schritten ging Falk hinüber zum Tisch an der Wand, auf dem Zaks Versuchsanordnung stand, schnappte sich das Buch, das noch an derselben Stelle lag wie gestern Abend, und betrachtete kurz den grünlichen stockfleckigen Einband. Magische Portale und wie man sie öffnet, stand auf dem Buchrücken und dazu der Name des Verfassers: Abdul Alhazred. Sonst nichts.

Mit einer ungeduldigen Geste wischte Falk den Staub vom Einband, schlug das Buch am Anfang auf und studierte das Inhaltsverzeichnis. „Magische Portale und was sich dahinter verbirgt“, las er halblaut, während er mit dem Finger nach unten fuhr. „Magische Portale im Wandel der Zeit ... Magische Portale und ihre Auswirkungen auf das Raum-Zeit-Kontinuum ... Wie man sich magische Portale zu Nutze macht ... Ah, hier: Über das Öffnen magischer Portale!“

Er blätterte eifrig zur angegebenen Seite und begann zu lesen. Seine Augen glitten unstet hin und her, hin und her, indes er die Zeilen überflog. Jael schaute ihm dabei über die Schulter und las mit, während Zara ans zerbrochene Turmfenster trat, hinaus auf den Horizont über dem Waldrand spähte und abzuschätzen versuchte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis es dunkel wurde und die Nacht hereinbrach. Da die Sonne wie immer hinter einer dichten Wolkendecke verborgen lag, war das nur schwer zu sagen. Es konnten sechs Stunden sein, vielleicht aber auch nur vier.

Doch so oder so, ihnen blieb nicht viel Zeit, um ihren verwegenen Plan in die Tat umzusetzen, zumal wenn man bedachte, dass keiner von ihnen Erfahrung mit Zauberei hatte – oder zumindest nicht damit, selber Zauber zu wirken. Und genau das konnte sich als verhängnisvoll erweisen, denn auch wenn Falk mit seiner Theorie richtig lag und Iliam Zak mit Hilfe dieses unscheinbaren Bändchens tatsächlich im Stande gewesen war, durch ein magisches Portal von einem Ort zum anderen zu gelangen, hieß das noch längst nicht, dass sie ebenfalls in der Lage waren, diesen Zauber zu wirken.

Auf dem Weg hierher hatte die Seraphim ihnen die Problematik des Zauberns noch einmal im Groben dargelegt und dass man mit einer gewissen Veranlagung geboren sein musste, um zaubern zu können. Die Natur hatte einigen Menschen diese mysteriöse innere Kraft gegeben, von der die wenigsten überhaupt wussten, dass sie sie hatten – es war, als hätten sie eine Tür in ihrem Inneren, zu der sie zwar den Schlüssel besaßen, jedoch nicht wussten, dass die Tür überhaupt existierte. Manche Menschen stießen zufällig auf diese Tür und schlossen sie auf, andere suchten ganz gezielt danach, und wieder andere lebten und starben, ohne auch bloß zu ahnen, welche Kräfte tief in ihnen ruhten.

Für sie galt es jetzt, diese Tür in ihrem Innern zu finden, und auch wenn Zara ziemlich überzeugt war, dass sie selbst da lange suchen konnte, hegte sie doch die Hoffnung, dass die Seraphim den Schlüssel zu ihrer Tür besaß. Verdammt, immerhin war sie doch von göttlicher Herkunft. Zu irgendetwas musste das doch gut sein!

Sie betrachtete eine Weile nachdenklich den Himmel über dem Wald, während sie Thor geistesabwesend das dichte Nackenfell kraulte, bis Falk hinter ihr entnervt schnaubte und weit weniger euphorisch als zuvor sagte: „Was für ein Kauderwelsch ... Wer, zum Geier, soll denn das verstehen?“

Jael schwieg und las weiter. Die Lektüre war tatsächlich ziemlich schwierig, voller hochtrabender Ausdrücke und Zaubervokabeln, doch anders als Falk konnte sie damit durchaus etwas anfangen. Der erste Abschnitt des Kapitels befasste sich auf eher nüchterne, sachliche Weise mit der Theorie von magischen Portalen: Wie funktionierten sie, welches Mysterium verbarg sich dahinter, was geschah, wenn man eines dieser Tore öffnete, und was, wenn es sich wieder schloss. Wenig davon war wirklich konkret nachvollziehbar.

Die zweite Hälfte des Kapitels jedoch war praktischer Natur. Dort stand beschrieben, wie man ein Portal zu einem bestimmten, beliebigen Ort öffnen konnte. Eigentlich klang es ganz einfach: Man musste mit Kreide einen so genannten Portalkreis auf den Boden malen, in dessen Mittelpunkt das Portal entstehen würde, sobald man ein bestimmtes Ritual durchführte und dazu die entsprechende Zauberformel aufsagte. In dem Buch stand exakt, was wann wie und womit zu tun war, sodass es hier kaum Unklarheiten gab.

Illustriert wurde das Ganze von einfachen, fast kindlichen Zeichnungen, mit denen der Portalkreis und die Anordnung der magischen Symbole im äußeren der beiden Ringe, aus denen der Kreis bestand, grob skizziert waren. Damit wusste die Seraphim alles, was sie wissen musste.

„Ich denke, das ist zu schaffen“, sagte sie, nahm Falk das Buch aus den Händen und legte es mit der Zeichnung des Portalkreises aufgeschlagen auf den verwüsteten Werktisch. „Wir brauchen geriebenen Klatschmohn, Wolfsbeeren, Wurmfarm, Tollkirsche, Schwefelsalz, Schafgabe, eine schwarze Kerze aus dem Fett einer tot geborenen Katze und Eisenhut“, zählte Jael auf, indes sie daran ging, die Trümmer auf dem Tisch nach den Substanzen abzusuchen, die sie brauchten. „Wenn Falks Theorie stimmt und Iliam Zak tatsächlich – wie in diesem Buch beschrieben – magische Portale geöffnet hat, dann müssten unter den Sachen hier in der Kammer auch die Substanzen zu finden sein, die man braucht, um den Zauber zu wirken.“

Als sich ihre Gefährten nicht sofort in Bewegung setzten, fügte sie voller Ungeduld hinzu: „Worauf wartet ihr? Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Falk und Zara warfen sich einen Blick zu. Dann zuckte der junge Mann mit den Schultern, ließ sich auf die Knie nieder und begann, den Boden nach den entsprechenden Kräutern und Pulvern abzusuchen, indes die Vampirin daran ging, die Regale und Schränke zu durchforsten.