Auch wenn sie anfangs – genau wie Jael – gewisse Zweifel gehegt hatte, dass Falks Portal-Theorie wirklich zutraf, schwanden diese, als sie in der verwüsteten Dachkammer tatsächlich auf Reste der Zauberkräuter stießen, die laut des Buchs von Abdul Alhazred nötig waren, um ein Portal zu einem anderen Ort zu öffnen. Einige Zutaten lagen inmitten der Trümmer auf der Werkbank, andere auf dem Boden.
Da zumindest Falk nicht die geringste Ahnung hatte, wie Wurmfarn oder Eisenhut aussahen und deshalb bei jedem vermeintlichen Fund nachfragen musste, dauerte es eine ganze Weile, die Kammer zu durchsuchen. Doch am Ende fanden sie tatsächlich alle Zutaten, die im Buch aufgelistet waren; einige der Kräuter waren von der Explosion verdreckt und halb vertrocknet, schmutzige Pflanzenstrunken, die nicht den Eindruck erweckten, als wären sie zu irgendetwas gut, schon gar nicht zum Zaubern, und das Schwefelsalz mussten sie quasi in einzelnen Krümeln vom Boden aufklauben, da der Tegel, in dem Zak das Salz aufbewahrt hatte, bei der Explosion zu Boden gefallen und zerbrochen war. Dann jedoch hatten sie alles beisammen – so hofften sie.
Falk hielt eine bereits halb niedergebrannte schwarze Kerze in der Hand, beschaute sie sich prüfend und murmelte: „Ob die aus dem Fett einer tot geborenen Katze ist? Wie kriegt man das raus? Kann man das schmecken?“
Zara nahm ihm die Kerze ab und sagte unwirsch: „Wenn sie aus dem Fett eines tot geprügelten Hundes ist, fahren wir alle zur Hölle. Dann wissen wir’s.“
Nach einem letzten Blick in das Buch begannen sie mit den Vorbereitungen.
Jael wischte mit dem Fuß wie mit einem Besen über den Boden, um in der Mitte der Dachkammer eine freie Fläche von fünf oder sechs Schritten Durchmesser zu schaffen. Dann ging die Seraphim in die Knie und begann unter den wachsamen Blicken ihrer Gefährten, mit Kreide einen Portalkreis auf die rissigen Holzdielen zu malen. Dabei fielen ihr auf dem Holz verwischte Kreidespuren von der gleichen Art auf, wie sie sie gerade zeichnete: stilisierte Symbole und Zeichen in einer uralten arkanen Sprache, die lediglich von einem elitären, verschworenen Zirkel Eingeweihter verstanden und gesprochen wurde. Einige der Symbole erinnerten mit ihren ineinander übergehenden Formen von Halbkreisen, Bögen und Monden an astronomische Sternzeichen, andere an fremdländische Schriftzeichen, die allein aus horizontalen und diagonalen Linien bestanden. Einzeln, jedes für sich, waren es nur irgendwelche Symbole, doch im Zusammenspiel bildeten sie, im äußeren Ring des Portalkreises angeordnet, eine Art magische Straße, die überall hinführte und zugleich nirgends.
Nachdem Jael den Kreis auf den Boden gemalt hatte, trat sie einen Schritt zurück, überprüfte, ob alles so war, wie im Buch abgebildet, und nickte zufrieden. „Das war der einfache Teil“, sagte sie. „Jetzt wird’s knifflig.“ Sie reichte Falk das Buch, in dem der Ablauf der Zeremonie beschrieben war. „Du bist dran“, sagte sie, und es klang mehr wie eine Bitte als wie ein Befehl; über den Punkt, an dem sie einander vorschrieben, was zu tun war, waren sie längst hinaus. „Es war deine Idee, also solltest du es als Erster versuchen.“
Falk nahm das Buch entgegen und nickte unsicher. Er war ungeheuer nervös. Vielleicht lag es daran, dass er wusste, dass es jetzt ernst wurde, vielleicht hatte er aber auch einfach nur Angst zu versagen. Denn auch wenn das Ritual im Buch nicht allzu kompliziert zu sein schien, war noch ein gewisses Maß an natürlichem Zauber nötig, damit die Kräuter und die Symbole ihre Wirkung auch so entfalteten, wie es gewünscht war.
Falk begann damit, dass er eines der sechs verschiedenen Kräuter auf jedes der sechs abstrakten Symbole legte, die wie Gestirne um den inneren Kreis aufgereiht waren. Dann stellte er die schwarze Kerze – von der er hoffte, dass sie nicht aus dem Fett eines tot geprügelten Hundes war – in den mittleren Kreis, riss an seinem linken Daumennagel ein Zündholz an und entzündete den Docht, der mit einem leisen Knistern eine ruhig brennende grüne Flamme bildete, die weder Wärme noch Helligkeit abstrahlte.
Alles, was jetzt noch übrig war, war das stinkende Schwefelsalz.
Das Salz in der hohlen Hand haltend, wandte er sich zu seinen Gefährtinnen um, die interessiert jede seiner Bewegungen verfolgten.
„Und jetzt?“, sagte er und wirkte dabei sehr verloren. „Wie öffnen wir jetzt das Portal nach Drakenschanze? Ich meine, wie stellen wir sicher, dass wir nicht in Mascarell landen oder in irgendeiner Einöde am Ende der Welt, fernab der nächsten Siedlung?“
Jael griff nach dem Buch und überflog ein paar Zeilen. „Hier steht, dass der Gedanke an den Ort, an den man zu gelangen wünscht, ausreicht, um das Portal dorthin zu öffnen.
Du musst also die Zauberformel aufsagen, das Salz in den Portalkreis werfen und dabei an den Ort denken, zu dem wir wollen. Den Rest erledigt die Magie dann von selbst – zumindest theoretisch!“
„Aber ich war noch nie in Drakenschanze!“, protestierte Falk. „Ich kann es mir also nicht vorstellen!“
„Dann denk einfach an den Namen“, sagte Jael. „Denk ,Drakenschanze‘. Das sollte genügen.“
Zara warf Jael einen skeptischen Seitenblick zu, als wäre sie davon nicht allzu überzeugt, sagte aber nichts, während Falk das Buch nahm, um es aufgeschlagen in einer Hand zu halten, indes die andere Hand mit Schwefelsalz gefüllt war. Unsicher stand er am Rande des Portalkreises, atmete noch einmal tief durch und begann dann mit stockender Stimme, die Zauberformel abzulesen, die das magische Portal öffnen sollte.
Es war ein abgehacktes, gutturales Gekrächze, vollkommen unverständlich für all jene, die dieser seltsamen Sprache nicht mächtig waren, und es klang ganz ähnlich wie die Beschwörung, mit der Wigalf auf dem Friedhof von Sternental die Toten aus ihren Gräbern hatte steigen lassen:
„Ph’angli agwa’nafhti, wgah’nagl fhtagn! Eyt Ph’nglui mglw’nafh, wgah’nagl fhlogn!“
Falk hatte seine liebe Mühe, die verqueren, beinahe ausschließlich aus Konsonanten bestehenden Silben über die Lippen zu bekommen, und als er damit fertig war, warf er – wie im Buch beschrieben – eine Hand voll Schwefelsatz in den Kreidekreis und wich hastig einen Schritt zurück, als befürchtete er, das Ganze könne explodieren und sie ebenso zerreißen wie den bedauernswerten Iliam Zak.
Doch es gab keine Explosion – nicht einmal eine kleine –, und auch sonst geschah nichts Spektakuläres, als das Schwefelsalz in die Kerzenflamme traf. Der Turm wurde nicht von einem gewaltigen Donnerschlag erschüttert, und es zuckten auch keine Blitze über den Himmel. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es geschah überhaupt nichts.
Mit halb erwartungsvollen, halb enttäuschten Mienen warteten sie noch eine geschlagene Minute, für den Fall, dass der Zauber vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um seine Wirkung zu entfalten. Doch als sich auch dann noch nichts regte, schüttelte Zara den Kopf, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Das war wohl nichts“, brummte sie.
„Vielleicht habe ich irgendwas falsch gemacht“, mutmaßte Falk. „Vielleicht habe ich den Zauberspruch falsch ausgesprochen oder abgelesen, oder ich habe nicht intensiv genug an Drakenschanze gedacht...“
Er griff in die kleine Schale, in der sie das Schwefelsalz gesammelt hatten, und rezitierte den Zauberspruch erneut:
„Ph’angli agwa’nafhti, wgah’nagl fhtagn! Eyt Ph’nglui mglw’nafh, wgah’nagl fhlogn!“
Dieses Mal kamen die seltsamen Worte schon flüssiger und weniger abgehackt über seine Lippen, doch als er das Salz in den Kreis warf, tat sich wieder nichts. Die grüne Flamme brannte ruhig weiter, die Kräuter ruhten auf den Symbolen, Falk dachte so angestrengt an Drakenschanze, dass ihm der Kopf wehtat, aber ohne Erfolg.
Nichts rührte sich.
Fluchend stampfte er auf dem Boden auf wie ein trotziges Kind. „Verdammter Mist!“, grollte er. „Warum funktioniert das nicht?“