Sie schaute noch einmal zum zerborstenen Fenster und hindurch, sah die Wipfel des Waldes, die sich träge vor dem nachtschwarzen Himmel wiegten, während die ersten Schneeflocken dieses „Winterabends“ zu Boden schwebten. Dann stieß sie ein vernehmliches Seufzen aus, schüttelte unmerklich den Kopf, als wäre sie sich selbst nicht sicher, was sie hier eigentlich tat oder warum – und dann ...
Dann trat auch Zara durch das magische Portal, ohne zu wissen, wohin es führte, was sie auf der anderen Seite erwartete oder ob sie jemals wieder zurückkehren würde.
X.
Der Ortswechsel vollzog sich unverzüglich und ohne jeden Übergang. In einem Moment trat Zara in der Dachkammer von Iliam Zaks Turm durch das Portal, im nächsten breitete sich um sie herum eine düstere glucksende Sumpflandschaft aus. Sie stolperte noch einen Schritt nach vorn – und stieß gegen Jael, die erschrocken herumwirbelte, die Hand sofort am Griff des Schwertes, um es aus der Scheide zu reißen.
„Entschuldige“, flüsterte Zara. „Es – es hat funktioniert?“ Sie schaute sich um und spürte, dass sie fröstelte. Es war kalt hier. Doch das konnte es nicht sein, was diese unnatürliche Kälte in ihr hervorrief. Dies war ein böser Ort, das spürte Zara mit all ihren vampirischen Sinnen. Ein Ort, der auch eine Kreatur wie sie innerlich frieren ließ.
„Ja, es hat funktioniert“, beantwortete Jael die eigentlich überflüssige Frage der Vampirin.
Das Dimensionstor hinter Zara blieb nicht bestehen, wie die Vampirin bemerkte, als sie sich umwandte. Es flimmerte, flackerte, brach dann in sich zusammen und war verschwunden, als habe es nie existiert. Damit war klar, dass die Gefährten es für die Rückkehr nicht mehr würden benutzen können. Das Zauberbuch war auf der anderen Seite des Portals zurückgeblieben, und die entsprechenden Substanzen, die für den Zauber nötig waren, hatten sie auch nicht dabei.
„Das wird ein langer, beschwerlicher Weg zurück nach Sternental“, murmelte Zara. In ihrer Nähe befand sich auch Falk, und Thor sprang hechelnd an ihrem Bein hoch, um seine Herrin freudig zu begrüßen. Zara tätschelte seinen Kopf und schaute sich die Umgebung an, wobei sie auch ihre vampirischen Sinne einsetzte, um zu ertasten, ob in unmittelbarer Nähe eine Gefahr auf sie lauerte. Doch sie registrierte nichts.
Es war eine düstere Landschaft, in die sie geraten waren. Um sie herum gluckste der Sumpf, Nebel waberte, und uralte verkrüppelte Trauerweiden ließen müde ihre langen Zweigarme ins dunkle Wasser hängen. Es war allerdings nicht wirklich dunkel, obwohl die Nacht bereits angebrochen war, während die drei Gefährten in Iliam Zaks Turm versucht hatten, das Dimensionstor zu öffnen; der Himmel war sternenklar, und am Firmament erhob sich bleich und rund der Vollmond und schickte sein silbriges Licht hinab zu Erde, das diesen Sumpf noch unheimlicher wirken ließ und den Nebel über dem dunklen Wasser zum Glühen brachte.
„Und dies ist wirklich Drakenschanze?“, murmelte Zara, noch immer Thors Kopf streichelnd.
Jael nickte und machte ein düsteres Gesicht. „Ein böser Ort ist dies“, flüsterte sie. „Ich spüre die dunkle Magie, die diesen Sumpf beherrscht. Sie ist allgegenwärtig. Schon viele Unschuldige hat dieser Sumpf ins Verderben gezogen, in seine kalten Tiefen, und nie wieder freigegeben. Nicht nur ihre Körper, auch ihre Seelen hält er gefangen. Ich höre das Wispern und Jammern ihrer Geister.“
„Ich habe keine Angst vor Gespenstern“, erklärte Zara.
„Sogar mit einer Horde Zombies sind wir fertig geworden. Also – wo ist dieser Friedhof des Sakkara-Kults, den wir suchen?“
Falk meldete sich zu Wort. „Ich weiß nicht, wo dieser Friedhof liegt, aber“, er wies mit ausgestreckter Hand in eine bestimmte Richtung, „dort scheint sich etwas zu tun!“
Zara sah sofort, was er meinte. Eine Lichterscheinung war dort zu sehen, ein rötliches Flackern, das sich zwischen den Trauerweiden Bahn brach. Fackeln schienen dort zu brennen und erzeugten in der mondbeschienenen Nacht diesen flackernden Schein. Wie weit ihr Ziel aber entfernt war, ließ sich nicht genau erkennen.
„Dort geht etwas vonstatten!“, sagte Falk, und seine Stimme klang mürrisch und entschlossen zugleich. „Ich wette, dort findet das Ritual dieser verfluchten Dämonenanbeter statt.“
„Dann lasst uns dorthin gehen“, entschied Zara, „und diese verdammte Brut bei ihrem Treiben stören. Ich will die Sache endlich zu einem Ende bringen!“
Schon setzte sie sich in Bewegung, machte drei Schritte – und ihr Fuß versank im glucksenden Moor. Gerade noch rechtzeitig packte Jael zu, erwischte Zara am Unterarm und zog sie aus dem Morast, bevor sie weiter versinken konnte.
„Danke“, stöhnte Zara. Sie ließ ihren Blick über das Moor schweifen. Das dunkle Wasser war kaum zu sehen, so dicht lag der Nebel über dem Sumpf. „Und wie kommen wir jetzt dadurch, ohne zu versinken?“
Weder Jael noch Falk wussten darauf eine Antwort – dafür aber offenbar Thor, der sich auf einmal vorwärts bewegte, durch den Nebel und auf den flackernden Schein zu.
Zara wollte ihn zurückrufen, doch Jael brachte sie mit einer Geste zum Schweigen und flüsterte: „Seine tierischen Instinkte weisen ihm den Weg. Wir sollten ihm folgen.“
„Das ist zu gefährlich“, war Zara überzeugt.
Jael zeigte ein kleines Lächeln. „Alles, was hinter uns liegt, und alles, was noch auf uns wartet, war und ist gefährlich. Wir haben mal wieder keine Wahl.“ Und dann fügte sie hinzu: „Aber wahrscheinlich machst du dir weniger Sorgen um uns als um Thor. Dieser Wolf und du – ihr seid von gleicher Art.“
Zara hatte keine Ahnung, was ihr die Seraphim damit sagen wollte, und sie hatte auch keine Lust, nachzufragen. Sie sah aber ein, dass Jael Recht hatte und dass sie Thor folgen mussten, denn es brachte nichts, wenn sie hier herumstanden und Wurzeln schlugen. Sie warf Falk einen Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte. Lass es uns versuchen, sollte das wohl heißen.
Thor war schon fast im Nebel verschwunden, also traf Zara ihre Entscheidung. Mit vorsichtigen Schritten folgte sie dem Wolf, und hinter ihr kamen die Seraphim und Falk. Das Tier schien tatsächlich einen sicheren Weg durch das Moor zu wittern. Vorsichtig und schnüffelnd bewegte es sich vorwärts, die Schnauze immer dicht über dem Boden, ging achtsam immer weiter. Die drei Gefährten folgten dem Graupelz.
Zara hatte immer geahnt, dass es sich bei Thor um ein besonderes Tier handelte. Das hatte sie bereits gespürt, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in der Nähe von Moorbruch, als sie ihn aus dem Fangeisen befreite. Dass er sie jetzt so sicher durch das gefährliche Moor führte, bestätigte ihre Vermutung. Nein, Thor war kein gewöhnlicher Wolf. Da steckte noch mehr dahinter, irgendein Geheimnis umgab ihn.
Plötzlich spürte die Vampirin Jaels Hand auf ihrem Arm und verhielt im Schritt. „Schau hoch zum Himmel“, flüsterte die Seraphim. „Es ist soweit!“
Zara blickte auf – und sah, wie sich ein kreisrunder Schatten langsam vor den Vollmond schob. Die Mondfinsternis begann.
„Die letzte Stunde ist gekommen, wenn sich die Erde zwischen Licht und Schatten drängt...“, flüsterte Zara. „Es geschieht! Wir kommen zu spät!“
„Noch ist nichts verloren!“, gab sich Jael überzeugt. „Aber wir müssen uns beeilen!“
„Wenn wir den Ort des Rituals nicht sofort finden ...“, begann Zara.
„Wir haben diesen weiten Weg nicht beschritten, um so dicht vor dem Ziel aufzugeben!“, widersprach Jael. „Wir müssen ihn jetzt bis zum Ende gehen!“
Zara nickte. Die Seraphim hatte Recht. Was immer kommen mochte, die Stunde der Entscheidung war angebrochen.
Einige Meter vor ihnen hatte Thor auf sie gewartet, nun setzte er sich wieder in Bewegung, und die drei Gefährten folgten ihm.
Das Moor um sie herum gluckste und schien zu brodeln. Wie knochige Finger streckten die Trauerweiden ihre Zweige nach den Gefährten aus, aber unbeschadet erreichten sie schließlich festen Boden.