Falk lächelte. „Klingt nach der perfekten Romanze.“ Jael nickte düster. „Das war es auch – bis der Große Krieg über das Land kam. Zaras Familie stand seit Generationen in Diensten des Königs, und da ihr Vater keinen Sohn hatte, der der Familie Ehre machen konnte, entschloss sich Zara, diese Bürde auf sich zu nehmen. Auch Victor wollte dem Ruf zu den Fahnen folgen, doch sein Vater starb, und da er jetzt die Verantwortung für seine Mutter und seine Geschwister trug, musste Victor schweren Herzens in Schönblick bleiben, während Zara in den Krieg zog. Victor versprach ihr, auf sie zu warten, egal, wie lange es dauern würde, und sie schworen sich, ihr Eheversprechen einzulösen, sobald Zara wieder zurück war. Als dieser Tag dann schließlich kam, war Heirat allerdings das Letzte, woran sie beim Anblick ihres Verlobten dachte.“ Falk runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“ „Sie hat ihn getötet“, sagte Jael mit harter Stimme. „Ihn – und alle Mitglieder ihrer beider Familien.“
Falk starrte sie ungläubig an. „Ist... ist das dein Ernst?“
Jael nickte. „Als Zara aus dem Krieg heimkehrte, war sie nicht mehr sie selbst; sie war jetzt ein Kind der Nacht, eine rastlose Tote, der nur noch eins Vergnügen bereitete: die Pein und der Schmerz anderer.“ Jael schwieg einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie mit leiser, ernster Stimme fortfuhr: „Nach ihrer Rückkehr stattete sie Victor einen Besuch ab. Im ersten Moment war er überglücklich, sie wieder zu sehen, doch das änderte sich rasch, als sie vor seinen Augen erst seine Mutter und dann seine Schwestern tötete, beginnend mit der ältesten. Erst dann war Victor selbst an der Reihe. Als er starb, muss er den Tod herbeigesehnt haben wie einen alten Freund.“ Jael schüttelte den Kopf, und sie wirkte dabei unendlich traurig. „Sie trank von keinem ihrer Opfer. Sie war nicht durstig; getrunken hatte sie bereits auf dem Weg in die Stadt. Alles, was sie Victor und seiner Familie antat, tat Zara zum Vergnügen, aus Freude daran, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen.“
Falk schluckte trocken, während Jael mit düsterer Miene sagte: „Danach ging sie in ihr Elternhaus und setzte ihr blutiges Werk fort – sie tötete nicht nur Vater und Mutter, auch die Diener, die Köchin, die Haushälterin und alle Bediensteten, die sich sonst noch im Haus aufhielten.“ Wieder nahm Jael einen Schluck Wein. „Dann kehrte sie ihrem Heimatort vorerst den Rücken, wanderte kreuz und quer durch Ancaria und hinterließ eine Spur des Grauens. Zara lebte all ihre düsteren Begierden ohne Hemmungen aus. Weder Mann noch Frau waren vor ihr sicher. Viele Unschuldige fielen in dieser Zeit ihrem unstillbaren Blutdurst zum Opfer.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte Falk. „All diese Dinge über Zara?“
„Weil ich Zara, ihr Leben und ihre Taten seinerzeit im Auftrag von König Valorian eingehend studierte“, erklärte Jael.
Falk runzelte die Stirn. „Im Auftrag des Königs?“
Jael nickte. „Nachdem Zara annähernd fünf Jahrhunderte lang mordend durch Ancaria gestreift war, einzig getrieben von ihrem Verlangen nach Blut und dem Leid anderer, beschloss König Valorian, dass es höchste Zeit war, ihrem grausamen Treiben ein Ende zu setzen. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Viele hatten es bereits versucht und waren gescheitert, und auch die Inquisitoren waren mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert. Also wandte sich der König an den Orden des Lichts, damit die Seraphim Zara zur Strecke brachten. Dazu aber mussten wir sie erst einmal finden. Doch Zara hatte eine Angewohnheit, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde: Alle fünfzig Jahre kehrte sie nach Schönblick zurück, um eine Woche lang den Ort zu terrorisieren, ehe sie wieder weiterzog. Sechs von uns brachen nach Schönblick auf, um Zara zu stellen, und es gelang uns, sie auf dem Friedhof in der Gruft ihrer Familie in die Enge zu treiben. Wir gingen davon aus, dass wir dank unserer göttlichen Kräfte des Lichts leichtes Spiel mit ihr haben würden, doch wir unterschätzten ihre bösartige Blutrünstigkeit, was drei von uns mit dem Leben bezahlten, bevor es uns schließlich mit vereinten Kräften gelang, Zara zu überwältigen. Meine Gefährtinnen wollten sie auf der Stelle vernichten, allein schon aus Rache für die ermordeten Schwestern, und auch ich wollte, dass sie für ihre Verbrechen bezahlte, doch sie einfach zu töten, erschien mir bei weitem nicht ausreichend, um all das Leid zu sühnen, das sie im Laufe der Jahrhunderte verursacht hatte. Und deshalb gab ich ihr das zurück, was ihr die Nosferatu, die ihr einst den Blutkuss gab, genommen hatte: Ich zwang sie, von meinem Blut zu trinken, und weckte ihre Seele – und damit ihr Gewissen.“
„Und auf einmal bereute sie ihre Taten“, mutmaßte Falk fasziniert.
„Sie verlor vor lauter Abscheu und Entsetzen über das, was sie getan hatte, fast den Verstand“, bestätigte Jael. „Plötzlich lastete die gesamte Schuld von fünfhundert Jahren auf ihr, die Erinnerung an all das Leid, das die verursacht hatte. Voller Entsetzen über sich selbst floh sie aus Schönblick. Einige Zeit lang behielten wir sie im Auge. Als ich Zara das letzte Mal sah, versteckte sie sich vor der Welt in den stinkenden Katakomben unter Burg Krähenfels und ernährte sich vom Blut der Ratten. Das war vor rund vier Jahrhunderten. Später versuchte ich vergebens herauszufinden, was aus ihr geworden ist; sie war wie vom Erdboden verschluckt – bis sie plötzlich zusammen mit dir in Moorbruch auftauchte und die Barmherzige spielte.“
„Red nicht so über sie!“, sagte Falk, heftiger, als er beabsichtigt hatte. „Was auch immer sie damals getan hat, sie hat sich verändert. Sie ist jetzt eine von den Guten. Sie hilft den Menschen.“
„Ich weiß.“ Jael reichte Falk den Weinschlauch. „Ich frage mich, was sie in all diesen Jahrhunderten, in denen ich nichts von ihr hörte, getrieben hat.“
Sie verstummte, als in den Büschen ganz in der Nähe ein verhaltenes Rascheln erklang. Dann tauchte Zara aus dem Dickicht auf, in den Armen genug Holz, dass das Lagerfeuer die ganze Nacht durch brennen konnte. Obwohl Falk sich alle Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, worüber sie gerade gesprochen hatten, verriet ihn irgendetwas in seinem Bück oder in seiner Miene. Denn als Zara das Holz neben das Feuer legte und sich auf ihre Decken sinken ließ, sagte sie mit einem knappen Seitenblick auf Falk: „Weißt du noch, wie ich dir neulich sagte, dass ich der schlimmste Albtraum bin, den du dir vorstellen kannst? Ich hoffe, jetzt glaubst du’s.“
Falk wurde rot im Gesicht, als hätte man ihn mit den Fingern im Honigtopf erwischt. Er fühlte sich ertappt. „Du hast gehört, worüber wir gesprochen haben?“
„Das brauchte ich gar nicht“, sagte Zara ruhig, „du schaust mich an, als könnte ich mich jeden Augenblick auf dich stürzen und dir das Herz rausreißen. Aber keine Sorge, inzwischen kann ich mich beherrschen.“ Ein bitterer Sarkasmus klang in ihren Worten mit.
„Ja“, sagte Falk, „weil du jetzt wieder eine Seele hast – und ein Gewissen.“
Zara warf der Seraphim einen schneidenden Blick zu. „Du redest zu viel.“
Jael zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, dass das unter Strafe steht.“ Sie hielt den Trinkschlauch in die Höhe und fragte mit einem unbefangenen Lächeln: „Noch jemand Wein?“
II.
In dieser Nacht lag Falk noch lange wach auf seinem Lager, eng in seine Decken gehüllt, um sich vor der klirrenden Kälte zu schützen. Nach Zaras Rückkehr hatte kaum noch jemand ein Wort gesagt. Dafür hatte der Weinschlauch so lange die Runde gemacht, bis er leer war, und als wäre das die letzte Tat gewesen, die sie für heute vollbringen mussten, krochen alle drei unter ihre Decken, rollten sich im warmen Schein des Feuers zusammen und versuchten, Schlaf zu finden.