»Sollen wir etwa kapitulieren?« fragte Bevern entrüstet.
»Ich habe gesagt: umstellen«, sagte Barth ernst. »Sehen Sie sich unseren Oberleutnant Obermeier an. Sein Vater war Offizier. Sein Großvater auch. Sein Urgroßvater war einer der langen Kerls des Soldatenkönigs. Und er selbst? Ein alter Fronthase, mit allen Wassern gewaschen. EK I, Das Deutsche Kreuz in Gold und so weiter. Er wurde sogar einmal im Wehrmachtsbericht erwähnt. Als er hierherkam, glaubte er, es gäbe für ihn nichts Neues unter der Sonne. Nach einer Woche wurde er ganz klein. Jetzt ist er wieder ein bißchen gewachsen.«
»Auf alle Fälle werde ich erst einmal diesen - diesen Schwanecke auf dem Appellplatz fertigmachen, daß er sein eigenes Gehirn als Rührei frißt. Gewissermaßen zur Abschreckung.«
»Sie bedienen sich einer wundervoll plastischen Sprache«, meinte Obermeier höflich. »Wo haben Sie das gelernt? Etwa aus der neuesten Ausgabe des deutschen Militärjargons, verfaßt von Oberfeldwebel Krüll und herausgegeben für alle Unteroffiziere?«
»Ha -!« sagte Barth wonnig.
Bevern schwieg verbissen. Welch eine Bande! dachte er grimmig. Schlappsäcke! Kapitulieren vor diesen Lumpen, die man nur aus Mitleid vor dem Galgen rettete. Umstellen? Lächerlich! Er sah aus dem Fenster. Die zweite Kompanie exerzierte. Hohläugige Gestalten mit verbissenen Gesichtern und dreckverkrusteten Uniformen.
Schnell sah Bevern weg. Ihn ekelte. Alle erschießen, dachte er. Das wäre die beste Lösung.
Am Abend, als Obermeier in der Stadt war und ein Kino besuchte, als Wernher bei der Gutsbesitzerin überlegte, ob er noch etwas essen oder schon schlafen gehen sollte, und Hauptmann Barth am Radio saß und Beethoven hörte, strich Oberleutnant Bevern durch die Baracken und stellte sich auf seine Weise dem Bataillon vor.
Zunächst traf er auf Oberfeldwebel Krüll.
Krüll kam von einer Inspektion zurück. Er hatte Deutschmann noch einmal in die Latrine gejagt, weil sie angeblich nicht sauber genug war. Eine Weile stand er dann mit den Händen auf dem Rücken hinter dem umherkriechenden Wissenschaftler, beobachtete verächtlich schnaufend seine Arbeit mit Eimer und Putzlappen und versprach schließlich, in einer halben Stunde wiederzukommen. »Wenn es dann hier nicht aussieht wie in einem Operationssaal, Sie Oberputzer, wischen Sie den ganzen Boden mit Ihrer intellektuellen Visage auf, haben Sie verstanden?«
In dieser Hochstimmung seiner Macht traf er auf Bevern und baute ein Männchen.
»Wie heißen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern lässig.
»Oberfeldwebel Krüll, Herr Oberleutnant!«
»Ach - Sie sind also Oberfeldwebel Krüll -!« sagte Bevern überrascht.
»Jawohl, Herr Oberleutnant!« Krüll strahlte. Um seinen Ruhm wußte auch schon dieser Neue! Doch er würde kaum gestrahlt haben, hätte er geahnt, daß Oberleutnant Bevern in diesem Augenblick beschloß, sich an ihm für Obermeiers Frechheit zu rächen.
»Wieviel wiegen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern.
Krüll sah in den Nachthimmel. Der ist verrückt, durchfuhr es ihn.
»Ich weiß es nicht, Herr Oberleutnant!«
»Sie wiegen 190 Pfund, Oberfeldwebel.«
»Ich - glaube, nicht so viel -.«
»Wieviel wiegen Sie?«
»190 Pfund, Herr Oberleutnant.«
»Entschieden zuviel, Oberfeldwebel, meinen Sie nicht auch?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant!«
»Mindestens vierzig Pfund zuviel!«
»Jawohl, Herr Oberleutnant.«
»Die müssen Sie ‘runterkriegen, Oberfeldwebel.«
»Jawohl, Herr Oberleutnant.« Nun dachte der verwirrte Krüll, diese dämliche Fragerei hätte ihr Ende gefunden und er könnte gehen, aber er irrte sich. Der Neue machte keine Anstalten, ihn zu entlassen, im Gegenteil, die Niedertracht kam erst.
Eigentlich hätte es Krüll wissen müssen: Die Methode des Neuen war genau die gleiche wie die seine.
»Fangen wir gleich damit an, Oberfeldwebel«, sagte Bevern und erhob dann seine Stimme zu schneidender Schärfe: »Kehrt marsch!«
Krüll trabte. Dann lief er, ‘rauf und ‘runter. Mit puterrotem Gesicht und weit aufgerissenem Mund. Seit fünf Jahren lief er zum ersten Male wieder. Das Hemd klebte an seinem schwitzenden Körper. Er verstand die Welt nicht mehr. Es war unfaßbar: Bis heute, bis zu diesem Augenblick, hatte er gedacht, er stünde mit den Offizieren auf der gleichen Seite der Barrikade. Und nun machte ihn dieser polierte Affe zu einem von der anderen Seite. Er keuchte. Und Beverns schneidende Stimme hämmerte in sein zermartertes Gehirn: »Schneller, Oberfeldwebel, los, schneller! Das macht den Körper geschmeidig und frei! Das ist gut für die Bronchien! Kehrt marsch!«
Dann war es zu Ende, Krüll durfte gehen und beschloß, sich besinnungslos vollaufen zu lassen.
Aber für Bevern war das erst der Anfang.
Alle werde ich fertigmachen, dachte er grimmig, entschlossen, unversöhnlich. Alle! Die verdammte Bande von
Mannschaften! Die Unteroffiziere! Alle! Und die hundsopportunistischen Offiziere. Alle! Mitsamt Obermeier und Barth!
Kapitel 3
In der Baracke 2 der 2. Kompanie sah Bevern etwas, was ihn zunächst sprachlos werden ließ. Darin erging es ihm nicht anders als zwei Abende zuvor Oberfeldwebel Krülclass="underline" Er entdeckte Schwaneckes Bildersammlung.
Schwanecke war gerade dabei, auch die Stirnseite seines Bettes und den Holzrahmen an der Seite mit den Bildern nackter Mädchen zu zieren.
Oberleutnant Bevern trat näher.
»Aha - da sind Sie ja wieder!« sagte er laut, als er hinter Schwanecke stand. Dieser drehte sich grinsend herum.
»Wie können Sie einen so erschrecken, Herr Oberleutnant? Sind sie nicht hübsch?«
»Sie -«, begann Bevern, aber Schwanecke ließ sich nicht beirren.
»Gefallen sie Ihnen, Herr Oberleutnant? Die Blonde da - die ist aus Berlin. Toll, was? Wenn Sie wollen -«, er beugte sich vor und sagte zu dem zurückweichenden Offizier vertraulich, als hätte er ihm ein Geheimnis zu verraten, »- wenn Sie wollen, Herr Oberleutnant, gebe ich Ihnen ihre Adresse. Wenn Sie mal nach Berlin fahren - von der kann der beste Mann noch ‘ne Menge lernen.«
Bevern fröstelte. Er konnte kaum atmen. Mit einem zischenden Laut stieß er die Luft aus der Nase und fuhr sich mit dem Zeigefinger hinter den Kragen.
»Fehlt Ihnen was?« fragte Schwanecke besorgt.
Bevern jagte ihn eine halbe Stunde über den Kasernenhof. Dann war er müde und heiser, aber Schwanecke grinste noch immer. Alles, was man ihm von der Anstrengung anmerken konnte, war ein bißchen Schweiß. »Sie können das beinah so gut wie mein Ausbilder bei den Rekruten«, sagte er, als er vor Bevern stand. »Was die Adresse angeht ...«
»Schweigen Sie -!« schrie Bevern.
Nach weiteren fünfzig Kniebeugen durfte Schwanecke gehen. Seine Knie zitterten, aber er grinste und ließ sich nichts anmerken. Nicht der, dachte er böse, nicht dieser -! Ich krieg’ dich mal dran, paß bloß auf, ich krieg’ dich mal dran -!
Deutschmann war fertig. Mit der Latrine und auch sonst.
Bis jetzt hatte ihn eine Art von Galgenhumor aufrechtgehalten. Nun war es vorbei damit; er war zu erschöpft, zu hoffnungslos, zu sehr erledigt, um in Krülls und anderer Unteroffiziere Geschrei und Schikanen nur eine hohle Aufgeblasenheit mit nichts oder nur wenig dahinter zu sehen. Durch die lange, schwere Krankheit körperlich ausgehöhlt, durch die Haft, den Prozeß und immer neue Demütigungen zermürbt, brauchte er seine ganze übriggebliebene Kraft, um sich aufrechtzuhalten, schutzlos der deprimierenden Umgebung preisgegeben. Jetzt fühlte er keinen Zorn mehr, keine Verbitterung, er war nur noch schwach und müde.
Nachdem er den Eimer, Putzlappen und die Besen aufgeräumt und sich gewaschen hatte, wankte er unter Aufbietung seiner letzten Kräfte in die Unterkunft, nur noch von einem Wunsch erfüllt: eine Zigarette und schlafen. Tagelang schlafen, ohne sich zu rühren. Sein linker Arm schmerzte unerträglich -der Arm, den er sich bei seinem Selbstversuch infiziert hatte, der nun mit Narben überzogen und völlig abgemagert war.