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»Loslassen!« sagte der Oberst heiser.

»Jawohl, Herr Schwanecke!« zischte Schwanecke! »Ich bring’ dich um! Ich bring’ dich um, wenn du’s nicht sagst!«

Lähmende, tödliche Stille breitete sich in der Stube aus. Es bestand kein Zweifeclass="underline" Schwanecke meinte es ernst, und keine Macht der Welt schien imstande, ihn zurückhalten zu können. Der lange, blasse Mann, der früher Oberst war, Eichenlaubträger und Divisionskommandeur, und jetzt nur noch Schütze Gottfried von Bartlitz im Strafbataillon 999, bedeutete für ihn die Verkörperung jener verhaßten Mächte, denen er sich sein Leben lang beugen mußte, vor denen er immerfort auf der Flucht war, gejagt wie ein räudiger Hund, in elenden, stinkenden Löchern vegetierend, sein verdammtes Leben und die Mutter, die ihn geboren hatte, verfluchend. Und trotzdem war das Leben in ihm zu mächtig, als daß er irgendeinen der Polizisten oder Feldgendarmen erwürgt hätte, die hinter ihm her waren, seit er sich erinnern konnte. Er wußte: das wäre sein Tod. Und er durfte nicht in die Fettmasse, die Oberfeldwebel Krüll hieß, hineinschlagen, bis nur noch ein wabbelnder, blutiger Haufen übrigblieb; er durfte nicht dem lackierten Affen von Oberleutnant Bevern die dünnen Knochen brechen, bis kein bißchen wimmerndes Leben mehr in ihm war. Sie waren für ihn unerreichbar, denn hinter ihnen stand die Macht, die das Fallbeil bediente. Aber hier hatte er einen. Hier konnte er nach dem lebenden Körper eines Mannes greifen, der früher zu den anderen gehörte und jetzt auf diese Seite der Barrikaden verschlagen wurde, ihn zwischen seinen mächtigen Händen zerquetschen, sein hochmütiges, widerliches Gesicht zu einem blutigen Brei zerschlagen und allen ihm ähnlichen in dieser gottverfluchten Baracke zeigen, wer hier der Herr war. Er konnte es tun: wer fragte jetzt noch nach einem Oberst von Bart-litz?

»Ich zähle bis drei. Eins -.«

»Genug jetzt, mein Junge«, unterbrach ihn eine sanfte, ruhige Stimme aus der Ecke. Ein noch junger, untersetzter, unscheinbar blond aussehender Soldat kam langsam an den Tisch. Seine bloßen Füße tapsten auf dem Holzboden.

Schwanecke zählte: »Zwei und -.«

»Dreh dich herum!« sagte der junge Soldat lauter.

Schwanecke schien ihn erst jetzt zu hören. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, maß mit einem schnellen Blick den neuen Gegner und wendete sich dann wieder zum Oberst. Seine linke Hand ballte sich zur Faust.

»Hierhersehen -!« schrie der junge Soldat auf, flankte wie ein geübter Turner über den Tisch und riß den überraschten Schwanecke vom Oberst.

»Mach ihn kalt, Schwanecke!« schrillte Rattengesichts Stimme durch den Raum. Er sprang auf, und es schien, als wollten sich jetzt auch die anderen Kartenspieler einmischen.

Doch sie kamen nicht dazu.

Was jetzt geschah, ging so schnell vor sich, daß später kaum einer beschreiben konnte, wie der junge, neben dem bulligen, bärenstarken Schwanecke knabenhaft-zerbrechlich wirkende Soldat mit dem Gegner fertig wurde. Zwei Köpfe fegten wie ein Wirbel durch die Stube, rissen den Tisch um, man hörte nur Schwaneckes wütendes Knurren, sein keuchendes Atmen und plötzlich einen unmenschlichen, spitzen, schrillen Schmerzensschrei.

Der junge Soldat löste sich geschmeidig vom liegenden Schwanecke, stand noch einen Augenblick über ihn gebeugt, richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare.

»So -«, sagte er.

Schwanecke lag auf dem Rücken und starrte mit glasigen, schmerzerfüllten Augen gegen die Decke. Über seine Schläfen rannen Tränen. Er öffnete den Mund, aus dem vorhin der schreckliche Schrei gekommen war, klappte ihn wieder zu, durch die Stille drang ein lang ausgezogenes, furchtbar anzuhörendes Knirschen, wie von brechenden Zähnen. »Was ist -«, stammelte er, und wieder:

»Was ist das - was ist das -.«

»Um Himmels willen - was haben Sie mit ihm gemacht?« fragte der Oberst.

»Nichts Besonderes. Es tut ihm nicht lange weh. Ein bißchen Jiu-Jitsu. In einer halben Stunde ist er wieder der alte.«

»Steh auf!« sagte der junge Soldat zu Schwanecke.

Der sah ihn zuerst verständnislos an, dann kam in seine Augen wieder Leben, Erkennen - und Furcht. Ächzend beugte er sich vor, hockte einige Augenblicke auf Knien und Händen, schüttelte den Kopf und zog sich dann, sich auf einen umgeworfenen Hocker stützend, auf die Beine. Schmerzvoll gekrümmt, mit hängenden Armen stand er vor dem Gegner, noch benommen von dem schnellen Überfall.

»Gib jetzt die Dose zurück«, sagte der junge Soldat ruhig.

Schwer, langsam, als hätte er eine Last zu tragen, die weit über seine Kräfte ging, schleppte sich Schwanecke durch die Stube und gab Deutschmann die Zigarettendose zurück.

»Auch die Zigarette«, sagte der junge Soldat.

Schwanecke nahm aus der Brusttasche eine Zigarette und hielt sie hin. Deutschmann zögerte.

»Nehmen Sie’s«, sagte der Soldat.

Deutschmann tat es.

»Und jetzt entschuldige dich«, sagte der Soldat.

»Schon gut. Es tut mir leid«, sagte Schwanecke.

»Ich danke Ihnen, junger Mann, es war höchste Zeit!« sagte der Oberst.

Der Soldat drehte sich langsam zu ihm und sah den Obersten lange an. »Sie haben mir nicht zu danken«, sagte er dann mit seiner ruhigen, doch jetzt ein klein wenig zitternden Stimme. »Ich habe es nicht Ihretwegen getan. Wenn es allein um Sie ginge, würde ich nicht mal einen Finger krumm machen, Sie -Offizier. Sie sind selbst schuld, wenn Sie hier sitzen und von solchen Leuten verprügelt werden -«, mit dem Kopf zeigte er gegen Schwanecke, der kraftlos auf einen Schemel gesunken war. »Sie haben selbst geholfen, die Leute hochzubringen, von denen Sie hierhergeschickt wurden, weil Sie nichts gegen sie unternommen haben, als es noch Zeit war. Mehr noch: Ihr habt sie sogar unterstützt - ihr Offiziere!« Seine Stimme war jetzt eisig und verächtlich. Und dann machte er einen schnellen, lautlosen Schritt gegen den verwirrt dastehenden Oberst, beugte sich vor und sagte: »Wissen Sie, warum ich hier bin? Weil ich einen Schweinehund von einem Offizier genauso verprügelt habe wie den da. Und er hat’s bei Gott mehr verdient. Schwanecke habe ich nur beigebracht, daß ich keine Lust habe, die Tyrannei der wildgewordenen Spießer und von Offizieren gegen die der Gosse einzutauschen. Dem kann man es auf diese Art beibringen, den anderen - euch nicht. Ihr gebt keine Ruhe, bevor ihr nicht ins Gras beißt.«

Achtlos, wie angeekelt, schob er den leichenblaß gewordenen Oberst beiseite und blieb vor Schwanecke stehen: »Wie geht’s?« fragte er. Seine Stimme war sanft und freundlich.

»Mensch!« Schwanecke sah auf. Sein Blick war hündisch ergeben. »Wie hast du das gemacht? Du mußt es mir beibringen. Bis jetzt hat mich noch niemand untergekriegt.«

»Ich werd’ mich hüten«, sagte der junge Soldat lächelnd. »Hilf jetzt die Bude aufräumen. Der >Gärende< muß jeden Augenblick kommen.«

Julia Deutschmann saß am Schreibtisch ihres Mannes und schrieb:

»Lieber Ernsti,

ich weiß, daß Du diesen Brief nie bekommen wirst. Und trotzdem schreibe ich Dir; ich möchte mit Dir sprechen, Dir sagen, was ich denke und fühle, ich möchte Dir erzählen, wie ich lebe. Es ist ein schlechter Ersatz, vor mir liegt ja nur ein leeres Papier, ich sehe Dich nicht wirklich. Nur wenn ich die Augen schließe und versuche, Dein Gesicht herbeizuzaubern, so bist Du da: groß, dünn, mit langen, ungelenk am Körper herabhängenden Armen, großer, schöner Stirn und grauen, erstaunten Kinderaugen. Aber Du bist auch nicht da; und wenn ich glaube, Dein Bild festhalten zu können, dann verschwindet es, zerfließt langsam, unaufhaltsam ...

Vor einigen Tagen habe ich mit der >Nachtarbeit< angefangen; ich will, so schnell es geht, die Arbeit wiederholen, die wir in diesen zwei Jahren getan haben, bevor Du weggeholt wurdest. Manchmal gelingt es mir, ganz dabeizusein; dann vergesse ich auch die ewige, bohrende, zurückgedrängte Angst, ich könnte es nicht schaffen, ich könnte Dir nicht helfen, es wäre zu spät für jede Hilfe - und ich sehe plötzlich unsere Arbeit wie ein neues, fast fertiges Gedankengebäude vor mir stehen.