Als der junge Leutnant mit dem eifrigen Milchgesicht stiefelknarrend und leise vor sich hinpfeifend über die Treppe gelaufen kam, blieb er plötzlich wie angenagelt stehen. Sein Pfeifen erstarb, aber seine Lippen blieben noch eine ganze Weile zugespitzt. Mit erschrockenen, weit offenen Augen starrte er auf das Bündel Mensch, das vor der Tür des Generalzimmers lag. Dann begann er zu laufen: zögernd zuerst und dann immer schneller.
Julia lag ohnmächtig auf dem steinernen Boden. Zwischen ihren halboffenen Lippen hingen Fetzen eines zerbissenen Taschentuches.
Am Stadtrand Posens, nach Kostrzyn hin, lag das Lager »Friedrichslust«: der einstweilige Stammsitz des Strafbatail-lons 999. Wer dieser Ansammlung von massiven, langweilignüchternen Steinbaracken im schwermütig-kahlen Land den poetischen, nach licht-heiteren Wäldern, Waldhörnern, kläffenden Hundemeuten und barocken Jagdgesellschaften klingenden Namen gab, wußte niemand mehr. Aber so stand es geschrieben an einem schon etwas verwitterten Schild neben der Wachbaracke und dem Schlagbaum, der nach alter Sitte den Eingang des Lagers von der Außenwelt abtrennte.
Herbst. Aus einem grauverhangenen, schweren Himmel nieselte es langsam und stetig.
Zur gleichen Zeit, als sich in Berlin, viele, viele Kilometer von hier entfernt, der junge Leutnant über die ohnmächtige Julia beugte, empfing der Spieß und somit die Mutter der II. Kompanie des Strafbataillons 999, Oberfeldwebel Krüll, von allen »Krüllschnitt« genannt, am Schlagbaum die Neuankömmlinge. Oder er tat das, was er gemeinhin »einen würdigen
Empfang« nannte, und was fast immer gleich aussah.
Zuerst verabschiedete er sich mit einem lässigen Gruß von den Feldgendarmen, die die Neuankömmlinge hierhergebracht hatten, als wollte er ihnen zu verstehen geben: Habt keine Bange, ich pass’ schon auf, ich bin da, und wo ich bin, da geht’s diesen Burschen genauso, wie sie’s verdienen.
Vor dem Wachgebäude ließ er dann die vier Männer der Größe nach in einer Reihe antreten und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen unter der leicht schief aufgesetzten Schildmütze, lange und eingehend: von links nach rechts, vom größten bis zum kleinsten, von oben bis unten und wieder nach oben. Was er sah, schien ihn zu betrüben: sein breites, fleischiges Gesicht bekam Kummerfalten wie ein Baby, kurz bevor es losheult, die dicke Unterlippe schob er vor, und mehrmals nickte er, als hätte er sich seine Erwartungen genau bestätigt.
»Sie heißen?« fragte er den längsten links in der Reihe.
»Gottfried von Bartlitz«, sagte der grauhaarige Mann mit den müden, tief in den Höhlen liegenden Augen und den tiefen Falten von den Nasenflügeln bis zu den Winkeln der schmalen, blutleeren Lippen. Seine viel zu weite, abgetragene Uniformjacke war durchnäßt, Regenwasser lief ihm über das Gesicht.
»Aha«, sagte Krüll. »Ein von, General, was?«
»Schütze«, sagte der große Mann.
»Und ich bin auch ein Schütze, was?« fragte der Oberfeldwebel sanft.
»Nein. Sie sind Oberfeldwebel.«
»Jawohl. Ich bin ein Oberfeldwebel und noch dazu Ihre Mutter. Gerade geworden. Und was sind Sie? Wie heißen Sie?« Das letzte brüllte er mit weit offenem Mund, vorgebeugt, mit Händen in die Hüften gestemmt, der Schall seiner Stimme zerriß die graue, schwere Luft und brach sich an den langen Barackenwänden jenseits des großen, weiten und naß glänzenden Hofes.
»Schütze Gottfried von Bartlitz, Herr Oberfeldwebel«, sagte der große Mann mit unbewegtem Gesicht.
»Hinlegen!« sagte Krüll, jetzt wieder leise; vielmehr, er sagte es nicht, er stieß das Wort hervor, als spucke er es aus, als schoß es gleichsam in den anderen, und als sich der große Mann hingelegt hatte, ging er schweigend um ihn herum und drückte mit den Füßen seine Absätze herunter in eine Pfütze, betrachtete eine Weile den Liegenden, ging rund um die drei übrigen und baute sich dann mit einer scharfen Kehrtwendung wieder vor ihnen auf.
»Und Sie?« fragte er den zweiten.
»Schütze Ernst Deutschmann, Herr Oberfeldwebel.«
»Beruf?«
Deutschmann zögerte. »Arzt, Herr Oberfeldwebel.«
»Doktor, was?«
»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«
Oberfeldwebel Krüll starrte den hageren Mann mit der hohen Stirn, gelblich-fahlem Gesicht und unruhigen, gehetzten Augen an, zog hoch, spuckte seitwärts aus und sagte schließlich: »Heiliger Bimbam, was muß ich auf meine alten Tage hören! Von Beruf Doktor!« Er schüttelte mit dem Kopf. Und dann brüllte er; er brüllte immer, bevor er »Hinlegen« befahclass="underline" »Entweder Doktor oder Schütze, aber jetzt sind Sie Schütze. Von Beruf und Berufung! Hinlegen!«
Chemiker, Privatdozent an der Berliner Universität, anerkannter Privatgelehrter und Verfasser einiger beachteter Artikel in den medizinischen Fachzeitschriften, legte sich hin und drückte dabei die Fersen nach innen zu Boden. »Schütze Doktor -!« hörte er die Stimme des Oberfeldwebels noch einmal sagen. Und dann hörte er den dritten in der Reihe:
»Schütze Erich Wiedeck, Herr Oberfeldwebel!«
Dann sagte der Oberfeldwebel etwas, brüllte wieder, aber Deutschmann verstand nicht, was er brüllte; er lag mit dem
Gesicht auf den Armen, es war ihm übel, der Regen stach ihm kalt in den Nacken, trommelte sanft auf seinen Rücken, er fröstelte, aber zugleich war es ihm auch heiß, vor seinen Augen lag ein rundes, nasses Steinchen, und eine kleine, nasse, verlorene Ameise kletterte darüber, verharrte, drehte sich herum, lief zurück, und er dachte: Es wird noch eine Weile dauern, bis ich gesund bin.
Und dann hörte er, wie sich der dritte Mann neben ihm hinlegte.
Oberfeldwebel Krüll stand jetzt vor dem vierten. Dieser war mittelgroß und genauso breit wie der Oberfeldwebel. Doch was bei Krüll Fett war, waren bei ihm dicke, schwellende Muskeln, die bei jeder seiner Bewegungen wie von eigenem Leben erfüllt unter dem knappen, geflickten, naß anklebenden Uniformrock spielten. Der mächtige Brustkorb spannte sich weit über den eingefallenen Bauch und stämmigen, dicken O-Beinen. Der Mann schien wie aus einem Felsblock grob herausgehauen zu sein, und sein Gesicht war wie ein plumper Lehmklumpen: eine niedrige Stirn unter dem kurzgeschorenen, schwarzen Haar, eine plattgeschlagene Nase und das Kinn eines Totschlägers. Er grinste. Doch nur sein Mund grinste; die etwas schrägstehenden dunklen Augen waren leblos und stumpf wie zwei Glaskugeln.
»Meine Fresse - hast du eine Visage!« sagte Krüll.
»Hab’ auch schon ‘ne Schönheitskonkurrenz gewonnen -gleich nach Ihnen«, sagte der andere, »im übrigen heiße ich Karl Schwanecke, habe Schweißfüße, und Sie sind der Spieß, und jetzt leg’ ich mich auch gleich hin.« Er machte Anstalten sich neben die anderen hinzulegen, doch der verblüffte, ratlose Krüll schrie ihn an, er solle stehen bleiben. So blieb Karl Schwanecke stehen und grinste den Oberfeldwebel an, der lange nichts sagte.
Weiß Gott, was Krüll in diesen Sekunden dachte. Wahr-scheinlich gar nichts; sein Gehirn war wie gelähmt. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt. Wohl gab es manchen widerspenstigen Kerl in diesem verfluchten Bataillon, ‘ne Menge Intelligenzler und Brillenträger, und auch manchen Kriminellen, der hierher abgeschoben wurde. Aber keiner wagte, ihm, Oberfeldwebel Krüll, so etwas - so etwas -, Schweißfüße, dachte er, und wußte nicht, was er tun sollte. So fing er brüllend zu fluchen an. Das war der beste Ausweg, und wenn man es lange genug tat, fiel einem fast immer etwas Vernünftiges ein.