»Aber ja, natürlich habe ich eine. Doch wozu brauchen wir eine Karte? Gehen wir doch hinaus und sehen uns den ganzen Kram selbst an. Es wird gleich hell sein - das heißt, ganz dunkel wird es hier sowieso nie.«
»Bei Feindeinsicht?« fragte Bevern zögernd.
»Warum nicht? Wenn meine Leute da arbeiten müssen, können wir ruhig zugucken!« sagte Wernher.
»Vergessen Sie nicht, daß diese - Leute - rechtmäßig verurteilt worden sind.«
»Und wir sind ihre Offiziere, die Vorbilder zu sein haben!« sagte Wernher ruhig. Bevern sah auf seine Hände.
»Bitte! Gehen wir.«
Später standen sie etwas außerhalb Babinitschis und sahen mit den Nachtgläsern hinüber zur HKL und zu dem Arbeitstrupp. Die Männer waren mit russischen Mänteln und Feldmützen bekleidet, die sie gefallenen Sowjets abgenommen hatten. Die erdbraunen Mäntel waren bei ihnen sehr begehrt, weil sie warmhielten und sie vor dem beißenden Schneewind und der klirrenden Kälte schützten. Wernher war nicht bis zu den Auffanggräben gefahren. Er wollte vermeiden, daß die russische Artillerie auf sie aufmerksam würde und neue Ausfälle in der Kompanie verursachte. Soviel war ihm Bevern nicht wert.
»Tagesleistung?« fragte Bevern und setzte das Glas ab.
»Wie vorgesehen.« Oberleutnant Wernher schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er zitterte; die Kälte schnitt durch den Stoff und jagte eisige Schauer über seine Haut.
»Und bei Obermeier?«
»Ich nehme an, das gleiche. Er ist noch schlimmer dran als ich. Er hat eine Granatwerferkompanie der Russen gegenüber und liegt außerdem im Schußbereich eines russischen Feldartilleriebataillons. Die verpassen keine Gelegenheit, ihn ordentlich zu beharken ...«
Oberleutnant Bevern überblickte zufrieden das endlose Schneefeld vor sich. Das war die Front! Welch ein erhabenes Gefühl, an der Front zu sein! Soldat des Führers! Beschützer Großdeutschlands vor dem asiatischen Sturm!
Der junge, dumme, begeisterte Offizier konnte nicht wissen, daß er nur noch einige Tage Soldat des Führers sein sollte. Und er wußte nicht, daß er in den letzten Minuten seines Lebens nicht nach dem Führer, nicht nach Deutschland, nicht nach dem Ruhm und nicht nach den Auszeichnungen flehen würde, sondern nach seiner Mutter - nach der Frau, die ihm altmodisch und kleinbürgerlich vorkam und die zu seinem großen Kummer und Zorn wenig von den Idealen ihres Mannes und ihres Sohnes zu halten schien ...
Julia Deutschmann schrieb:
»Mein lieber Ernsti,das ist der fünfte Brief, den ich Dir schreibe. Der fünfte in der Reihe der Briefe, die ich nie abschicken werde. Junge Mädchen schreiben schwärmerische Tagebücher. Wenn man sie danach fragt, warum sie Tagebücher schreiben, behaupten sie, sie täten es für sich selbst, weil es ihnen einfach Spaß macht. Wenn sie einigermaßen intelligent sind, sagen sie, sie täten es, um Klarheit in ihre verworrenen Gedanken zu bringen. Doch bei allen sollen die Tagebücher ein Selbstzweck sein. Aber das sind sie nicht; jede Zeile, die sie schreiben, ist jemandem gewidmet. Es muß nicht ein bestimmter Mann sein - es ist der Prinz, auf den sie warten, der eines Tages kommen würde, um sie irgendwohin zu führen, wo es ein Meer von Liebe gibt.
Ich bin kein junges Mädchen mehr, und ich warte nicht mehr auf einen Prinzen, den es so, wie man sich ihn mit 16 oder 17
Jahren vorstellt, nirgendwo gibt. Aber eines habe ich doch noch mit der 17jährigen Julia gemein: Mein Herz ist voller Erwartung und voller Liebe. Mein Prinz bist Du, und mein Tagebuch sind diese Briefe an Dich. Zugegeben, oft warst Du ein recht nachlässiger und zerstreuter Prinz, manchmal auch ein schlecht gelaunter, nörgelnder und kratzbürstiger - und ich glaube kaum, daß Du Dich je ändern wirst. Aber was wäre eine Liebe wert, die sich davon beeinflussen ließe?
Schluß damit. Ich habe Angst, weiter so zu schreiben; denn ich will nicht wieder weinen. Ich habe zu oft geweint in den letzten Wochen, auch dann, wenn ich eigentlich keine Zeit dazu hatte. Du hast mich immer für eine selbstbewußte, energische Frau gehalten. Manchmal sogar, fürchte ich, für einen Blaustrumpf. Vielleicht war ich es auch. Aber jetzt, jetzt bin ich es nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch hilflos und voller Sehnsucht, und fast immer voller Angst und Furcht vor heute, vor der Stunde, in der ich gerade lebe und vor der nächsten und übernächsten ...
Vor einigen Tagen hat mich Dr. Kukill eingeladen: Der Mann, der den Stab über Dich gebrochen hat. Ich glaube, er weiß, daß ich ihn hasse und verabscheue. Aber er stellt sich blind und tut so, als ob nichts vorgefallen sei. Und doch bin ich fast sicher, daß auch er sich Gedanken macht über die Rolle, die er in Deinem Prozeß gespielt hat, und über seine unglückselige Rolle, die er tagtäglich spielt - spielen muß, wie er behauptet.
Er wollte, daß wir tanzen gehen nach dem Abendessen im Bosnischen Keller. Ich habe natürlich abgelehnt. Ich fragte ihn, ob und wie er es über sich bringen könnte, mit der Frau zu tanzen, deren Mann seinetwegen in diesem fürchterlichen Strafbataillon leben muß. Ich habe nicht mehr darauf geachtet, was ich sagte; ich konnte sein glattes Gesicht und seine Konversation einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wie mich all die glatten nichtssagenden Gesichter um mich herum langweilten, Gesichter von Menschen, die so taten, als gäbe es nicht einen millionenfachen Tod rundum, legalisierten Mord, und all das Schreckliche, was dieser Krieg mit sich bringt. Ich dachte auch nicht mehr daran, daß er der Mann ist, der uns beiden vielleicht doch noch helfen kann. Es war leichtsinnig und unverantwortlich, ich weiß, aber ich fragte ihn, wie er es eigentlich fertigbringe, hier mit mir zu sitzen und so zu tun, als wären wir im tiefsten Frieden, als gäbe es nichts Wichtigeres, als Wein zu trinken und über Wein und andere belanglose Sachen zu sprechen und eine Frau zu umschwärmen mit dem Ziel, ihren Haß zu brechen und sie zu besitzen, obwohl nach seinen Gutachten bestimmt viele Menschen verurteilt und von einer unmenschlichen Justiz ermordet wurden.
Wie immer, konnte ich auch damals aus seinem Gesicht nichts herauslesen: Unbeweglich, fast steinern war es, als er mich ansah. Aber dann sagte er, mit einer Stimme, die ich an ihm noch nicht kannte: >Meine Nächte sind sehr lang. Und meine Träume und meine Gedanken sind selten schön ...< Warum sind sie das? Fühlt er am Ende seine Schuld? Weiß er um sie?
Ich weiß nicht, wie es kam, aber in diesem Augenblick tat er mir fast leid. Trotz allem. Sind wir Frauen nicht unvernünftig? Wenn wir in einem Menschen Tragik oder auch nur Hilflosigkeit zu erkennen glauben, dann bemitleiden wir ihn, und unser Blick wird getrübt. Dann wollen wir helfen und fragen uns nicht mehr, ob der Mensch unsere Hilfe auch wert ist.
Ich werde nicht klug aus diesem Mann. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich der selbstbewußte, unabhängige Mann ist, für den er sich ausgibt, oder nur ein hilfloses, schwaches Werkzeug der Stärkeren, ein Mann, der keinen Ausweg mehr findet aus der Sackgasse, in die ihn seine Gier nach Macht, nach Unabhängigkeit und Geld gebracht hat.
Wie dem auch sei, welche Gedanken ich auch wälze, das Wichtigste vergesse ich nie. Und das ist, Dich wieder herauszuholen, und sei es nur, daß Du zu einer normalen Truppe versetzt wirst. Nein, es stimmt nicht, was ich mir manchmal selbst vorgeworfen habe: daß ich alle die Frauen vergesse, deren Männer an der Front sind. Ich will keine Ausnahme sein, obwohl ich genauso wie alle diese Frauen wünsche, es gäbe den Krieg nicht und Du wärst bei mir. Aber ich will nicht, daß Du als Verbrecher angesehen und abgestempelt wirst, denn ich weiß, daß Du verurteilt wurdest, nur weil Du anderen helfen wolltest.
Ich war recht fleißig in den letzten Wochen. Ich habe Deine ganze Arbeit mit den Pilzkulturen wiederholt. Es ging schneller, weil ich alle Fehler und alle Sackgassen vermeiden konnte, die Dir damals so viel zu schaffen machten. Es ist mir gelungen, einige Kulturen des Strahlenpilzes voll zu entwickeln. Jetzt gehe ich daran, unsere geheimnisvollen >Mikrobentöter< zu isolieren. Wenn ich genug von dem >Aktinstoff< habe, mehr als damals bei Deinem unglücklichen Selbstversuch, dann werde auch ich einen Selbstversuch machen. Ich bin sicher, daß es diesmal gelingen wird und daß wir damals nur zu wenig davon gehabt haben, um eine wirksame Therapie durchzuführen. Ich bin sicher, daß es Dir gelungen ist, ein wirksames Mittel gegen die Infektionserreger zu finden, denen besonders jetzt im Krieg Zehn- oder Hunderttausende von Menschen erliegen müssen. Daran glaube ich nicht nur, weil ich Dich liebe. Das wäre falsch. In dieser Hinsicht bin ich unbestechlich. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß wir auf dem richtigen Wege waren. Wenn mein Selbstversuch gelingt, dann wird man Dich nicht mehr festhalten können.