Sonst ist es hier so wie immer: Bombenangriffe, Furcht, lange Schlangen vor den Lebensmittelläden, eingefallene, hungrige Gesichter, Hoffnungslosigkeit und sehr, sehr wenig von dem >Siegeswillen<, von dem >unser deutsches Volk< beseelt sein soll. Es ist ein großer Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem, was man im Radio hört oder in den Zeitungen liest. Und auch bei mir: Sehnsucht, Sehnsucht und Liebe. Ich denke an Dich, Ernsti, immer. Ich will an Dich denken, denn die Gedanken an Dich halten mich aufrecht und helfen mir über die Mutlosigkeit und Verzweiflung hinweg, die mich so oft überwältigen wollen. Wärst Du nur hier, könnte ich doch nur mit der Hand über Dein Gesicht fahren ... Jetzt würde ich sogar meine Wange an Deinem Stoppelbart reiben, also das, was ich früher nie tun wollte, weil Du ja so schrecklich aussahst mit den harten, roten Bartstoppeln ... Du brauchtest Dich nie mehr zu rasieren. Du könntest Deine Sachen überall in der Wohnung verstreuen, die leeren Tassen mitten im Zimmer auf dem Boden stehen lassen. Du könntest alles das tun, worüber ich mich früher so geärgert habe, wärst Du nur hier, wärst du nur hier, Ernsti ... Gute Nacht!«
Kapitel 7
Acht Tage nach der Ankunft des Strafbataillons kam auch das Lazarett in Orscha an. Jakob Kronenberg bildete mit vier Mann die Vorausabteilung und begab sich in Orscha auf die Suche nach Ernst Deutschmann, bis er erfuhr, daß dieser mit der 2. Kompanie bei Gorki lag. Hauptmann Barth, bei dem er sich meldete, versetzte ihm gleich einen Schreck, als er sagte: »Gut, daß die Medizinmänner da sind! Das Lazarett kommt nach Barssdowka am Dnjepr. Dort kann es vom ganzen Bataillonsbereich die Verwundeten aufnehmen. Bisher hatten wir siebzehn Tote und sechsunddreißig Verwundete.«
Der Sanitäter verließ den Bataillonsgefechtsstand in ziemlich düsterer Stimmung. Die Begrüßung mit der Nachricht, daß für das Lazarett des Bataillons eine sehr windige Ecke ausgesucht worden war, empfand er beunruhigend. Er hatte zwar etwas Ähnliches erwartet - dafür war es ja auch ein Strafbataillon -aber wie üblich, hatte auch er ein unbehagliches Gefühl im Magen, nachdem er sich vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Er meldete seine Bedenken auch gleich dem Stabsarzt Dr. Bergen weiter, als er frühmorgens mit einem behelfsmäßigen Lazarettzug in Orscha eintraf und auf die versprochenen Lastwagen wartete, die die Medikamente, die Betten und die sonstige Lazarettausrüstung transportieren sollten.
Dr. Bergen hatte einen Assistenten bekommen, einen jungen Unterarzt. Er war Chirurg, hatte keinerlei Fronterfahrung und war bisher Assistent in einem Warschauer Reservelazarett gewesen. Er sah unscheinbar aus, schmalbrüstig, zartgliedrig, fast mädchenhaft. Die langen Wimpern und sein schüchternes Wesen verstärkten noch den Eindruck der Hilflosigkeit, den er auf Dr. Bergen machte. Fast unmerkbar hatte er sich in den Lazarettbetrieb eingelebt. Nur einmal war er aus seiner grauen Anonymität hervorgetreten. Während der Fahrt zur Front hatten sie einen Tag Aufenthalt in Borissow. An einer Straßenkreuzung der Rollbahn erlebten sie einen Unfalclass="underline" Ein Muniwagen war mit einem kleinen Kübelwagen zusammengeprallt. Aus dem Schrotthaufen hatte man einen jungen Leutnant gezerrt, dessen linkes Bein oberhalb des Knies nur noch an ein paar Fetzen hing. Aus der zerrissenen Schlagader schoß in rhythmischen Schlägen das Blut. Noch auf der Straße, neben dem Trümmerhaufen des Kübelwagens, hatte der Unterarzt das Bein amputiert. Seit diesem Tag empfand Dr. Bergen eine stille Hochachtung für den unscheinbaren jungen Mann.
Jakob Kronenberg kam von der Suche nach den Lastwagen zum Bahnhof von Orscha zurück. Der behelfsmäßige Lazarettzug stand noch immer auf einem Nebengleis. Unterarzt Dr. Hansen hatte in einem Viehwagen eine Ambulanz eingerichtet und behandelte einige Unfälle, die sich auf dem Bahngelände ereignet hatten. Stabsarzt Dr. Bergen dagegen suchte bei der Bahnverwaltung den verantwortlichen Transportoffizier. Er hatte sich vorgenommen, entgegen seiner sonst ruhigen Art, energisch nach dem Rechten zu sehen. Schließlich war man jetzt an der Front ...
»Haben Sie die Wagen?« fragte Dr. Hansen. Er verband eine gequetschte Hand und sah während der Arbeit zu Kronenberg hinab, der neben den Geleisen stand und trotz seines offenen Pelzes schwitzte.
»Sie kommen bei Einbruch der Dunkelheit, Herr Unterarzt. Der Kommandeur sagt, bei Tage sei es unmöglich, durch die paar Kilometer zu fahren, die der Iwan einsieht - auch mit dem Roten Kreuz nicht. Die schießen auf alles. was sich über den Schnee bewegt.« Kronenberg setzte sich auf eine leere Tonne und wischte sich über das Gesicht. »Drecknest!« sagte er voller Verachtung.
Über die zarten, mädchenhaften Züge des Unterarztes glitt ein Lächeln. »Und ich dachte, Sie würden sich wohl fühlen, wenn wir in Rußland sind, Kronenberg?«
»Wieso?«
»Sie sind doch - was man ein altes Frontschwein nennt. Wie oft waren Sie in Rußland?«
»Jetzt bin ich zum viertenmal hier.«
»Es heißt doch, daß sich der deutsche Landser, der einmal an der Front war, in der Etappe nicht wohl fühlt. Sobald er dann die HKL wittert, wird er lebendig und blüht auf. Ein moderner Landsknecht. Stimmt das?«
Jakob Kronenberg steckte sich eine Zigarette an. Er sah dem Soldaten eines Baubataillons nach, der mit seiner verbundenen Hand über die Geleise trottete und zurück zu den Kolonnen ging, die die durch Granaten zerfetzten Schienen auswechselten und Weichen reparierten.
»Weiß nicht«, sagte er. »Vor dem Gedanken, wieder nach
Rußland zu kommen, hat jeder einen Bammel. Aber wenn man dann wieder hier ist, dann denkt man doch irgendwie, wieder zu Hause zu sein. Klingt blöd, was? Rußland und zu Hause?«
»Warum nicht?«
»Na ja - dieses trostlose Land und dann die Menschen, die am Tage unsere Munition auf die Lastwagen schleppen und in der Nacht dieselben Wagen in die Luft jagen?«
»Aber alle können doch nicht Partisanen sein!«
»Alle nicht, aber ne Menge. Mehr als wir denken.« Kronenberg behielt beim Sprechen die Zigarette im Mund.
»Wir kommen nach Barssdowka«, sagte der Kommandeur, »das Nest liegt am Dnjepr, das armseligste Kaff im Mittelabschnitt, das man sich vorstellen kann!« Er schnippte die Zigarettenkippe weg und erhob sich von seiner Tonne. Der scharfe Schneewind zog in einem langen Stoß über die Ebene. Er knöpfte seinen Lammpelz zu. »Sie kommen aus Warschau, Herr Unterarzt. Sie wissen noch nicht, was es heißt ... na ja, Sie werden’s ja merken! Unsere Leute kommen mir vor wie Tontauben, mit denen die Russen schießen lernen. Es wird ‘ne Menge Arbeit geben.«
»Aber wir schießen ja auch, Kronenberg, oder?«
Kronenberg sah den Unterarzt verwundert an. »Na ja, sicher«, sagte er, »dafür ist eben Krieg. Wir wollen die Bolschewiken vernichten, und die Bolschewiken wollen die Nationalsozialisten vernichten, und beide behaupten, sie hätten recht ...«
»Und wer hat recht?«
Kronenberg spuckte aus und sagte abschließend: »Wir natürlich, Herr Unterarzt, wer denn sonst?«
Stabsarzt Dr. Bergen kletterte über einen Haufen Schienen und stapfte zu dem Lazarettzug zurück. Dr. Hansen sprang aus seinem Waggon und ging ihm entgegen.