»Haben Sie etwas erreicht, Herr Stabsarzt?«
Dr. Bergen nickte grimmig. »Ich habe festgestellt, daß wir hier eine mustergültige, fast friedensmäßige Verwaltung haben. Ich meine insofern, daß nämlich niemand zuständig ist. Ein Haufen Offiziere, ein Haufen Dienststellen ...« Dr. Bergen winkte mit einer müden Handbewegung ab.
»Hauptmann Barth hat Lastwagen für die Nacht versprochen.« Dr. Hansen zog den Ohrenschützer herunter. »Ein scharfer Wind«, sagte er. »Wenn alles gut geht, sind wir übermorgen in Barssdowka aufnahmebereit.«
Sie warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als der fahle Himmel grau wurde und schließlich stumpf-schwarz, klapperten ein paar Lastwagen über das Bahngelände und hielten vor dem Lazarettzug. Ein Oberfeldwebel meldete sich beim Stabsarzt.
Dr. Bergen betrachtete die alten Beutewagen. »Mit diesen Wracks wollen Sie fahren?«
»Warum nicht? Mit den Klapperkästen haben wir schon ganz andere Sachen transportiert!«
Kronenberg nahm den Oberfeldwebel zur Seite:
»Er ist zum erstenmal in Rußland. Halt die Schnauze und mach, was du für richtig hältst. Am Ende wundert er sich, wie gut wir in Barssdowka landen.«
»Wenn sie uns nicht erwischen!«
»Partisanen?«
»Genau. Bei Gorki ist die Hölle los!« Der Oberfeldwebel winkte die Lastwagen zu einer Rampe, auf der jetzt Kisten mit dem Verbandsmaterial, den Medikamenten, den chirurgischen Bestecken und die zusammenklappbaren Betten aufgestapelt wurden. »Wie lange wollt ihr denn in Barssdowka bleiben?«
»Bis zum Endsieg«, grinste Kronenberg.
In Barssdowka erwarteten sie der Hilfssani Ernst Deutschmann und einige Männer der 2. Kompanie. Die Straße durch das zerschossene Dorf war vom Schnee reingefegt, die Telefonleitungen waren schon gelegt, eine große Scheune und ein zusammengeflicktes Bauernhaus waren ausgeräumt worden und dienten als Lazaretträume. Als die kleine Kolonne aus der Nacht ins Dorf fuhr und knatternd an den ersten zerstörten Häusern vorbei schaukelte, tauchte vor dem ersten Wagen ein kleiner, breitschultriger, krummbeiniger Russe auf und winkte fröhlich grinsend herauf. Er rannte vor der Kolonne her und wies ihr den Weg zu Deutschmann, der mit Handlampen und Batteriescheinwerfern die Scheune einigermaßen beleuchtet hatte.
Kronenberg kletterte durchgefroren aus seinem Wagen und machte einige Kniebeugen, um die steifen Glieder wieder zu durchbluten. Der kleine Russe hob freundlich die Hand.
»Guten Abend«, sagte er.
Kronenberg nickte. »Komm mal her, du krummer Hund! Du bist hier Hiwi?«
»Da.«
»Dann geh mal da hinten zu dem Herrn Stabsarzt und hilf abladen! Verstanden?«
»Da.«
»Hau ab!«
Lächelnd entfernte sich Pjotr Tartuchin und stapfte in seinen dicken Fellstiefeln hinüber zu Dr. Bergen, der die Wagen nahe an die Scheune dirigierte.
Die Begrüßung zwischen Deutschmann und Kronenberg war kurz. Sie klopften sich auf die Schultern und lachten sich an. Deutschmann hatte sich seit zwei Tagen nicht rasiert, sein stoppeliges Gesicht war eisverkrustet und von der Kälte gerötet.
»Wieder einmal umgekippt?« fragte Kronenberg fast ein wenig besorgt. Er griff in seinen zottigen Pelzmantel und holte die obligate Flasche Schnaps heraus.
»Nein. Die russische Luft scheint mir gut zu bekommen.«
»Das kommt davon, weil sie voll von Vitamin E ist«, grinste Kronenberg.
»Wieso?«
»Eisen«, sagte Kronenberg. Beide lachten und tranken.
»Und Krüll, der Schweinehund?«
»Kriecht kaum aus seinem Bau heraus. Alle warten darauf, daß er sich einmal in die Hosen macht.«
»Und die anderen? Bartlitz, Schwanecke, Wiedeck?«
»Bartlitz ist perfekter Koch geworden und die anderen - sie halten die Schinderei mit Schanzen besser aus, als man gedacht hatte.«
»Obermeier?«
»Ein toller Kerl!« sagte Deutschmann begeistert. »Immer vorne an der Straße beim Schanzen. Immer hat er Schnaps und verteilt ihn, obwohl das verboten ist. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ihm einmal etwas zustößt .«
Auf der dunklen Straße brüllte Dr. Bergen nach Kronenberg. Der Sanitäter wies mit dem Daumen in die Richtung aus der das Gebrüll herüberscholl, grinste spöttisch und trank schnell noch einen Schluck Schnaps: »Da hörst du’s selber. Wenn ich nicht da bin, ist der Alte hilflos wie ein Säugling!«
Dr. Bergen stand vor einer Kiste, die Tartuchin hatte hinfallen lassen.
»Schwerr!« sagte der kleine Mongole und hob die Schultern bedauernd hoch. Aus seinen Augenspalten betrachtete er die Verbandspäckchen, die aus der geplatzten Kiste in den Schnee gerollt waren. Verbände, Watte, Zellstoff ... und weiß der Teufel, was alles in den anderen Kisten war ... Lauter Sachen, die sie im Wald von Gorki gebrauchen könnten. Dort verbanden sie sich mit alten Hemdfetzen und schrien in ihren Erdhöhlen vor Schmerz und Wundfieber.
Kronenberg erschien bei der Gruppe und jagte Tartuchin weg. »Hau ab, das ist nichts für dich!« sagte er laut. Und zu den anderen: »Die Kisten in das Bauernhaus, die Betten und Strohsäcke in die Scheune. Paßt auf beim zweiten Wagen, da ist Glas drin!«
Unter dem Licht der Taschenlampe wurden die Transporter entladen. In dem Bauernhaus wurde ein behelfsmäßiger Operationsraum eingerichtet. Dr. Hansen stellte selbst den zusammenklappbaren Operationstisch auf, half beim Zusammensetzen eines Instrumentenschrankes und richtete das Zimmer so ein, daß leichte und mittlere Operationen vorgenommen werden konnten. An einer Schwebeleitung wurde unter der Decke eine große Lampe montiert, deren Schein den Operationstisch in blendendes Licht hüllte. Die beiden Fenster des Raumes mußten deshalb mit je zwei Decken verdunkelt werden, damit der Lichtschein nicht nach draußen fiel und die leichten russischen Bomber, die »Nähmaschinen«, anlockte.
Auf der Straße von Gorki her nahte ein helles Brummen, als die Wagen bereits abgeladen und die Soldaten mit der Inneneinrichtung fast fertig waren. Kronenberg, der mit Deutschmann und Tartuchin vor dem Eingang der Scheune stand, steckte sich in der hohlen Hand eine Zigarette an.
»Was ist das? Ein Schlitten?«
Deutschmann nickte. »Von der zweiten Kompanie. Holz, damit man hier Schränke und Tragen zimmern kann.«
Aus der Nacht schälten sich die Umrisse eines großen Motorschlittens. Wie eine riesige Spinne kroch er durch den Schnee, machte einen Bogen um die Lastwagen und hielt kreischend vor der Scheune. Aus dem geschlossenen Führerhaus sprang eine vermummte Gestalt, eine Maschinenpistole in der Hand. Sie schwenkte sie durch die Luft und rannte auf Kronenberg zu.
»Altes Rindvieh!« schrie sie.
Kronenberg lachte breit. »Mensch, Schwanecke, lebst du noch?«
»Mich bringt keiner so bald um!« grinste Schwanecke.
Tartuchin stand abseits, an die Scheunenwand gelehnt. Durch seinen Körper liefen lange Schauer. Sein breites gelbes Gesicht erschien plötzlich tot und unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Seine zerschossene linke Hand verbarg er im weiten Pelzärmel seines Mantels. Die Zähne hatte er zusammengebissen, daß ihm die Kiefer wehtaten. Aber er spürte es nicht. In diesen Augenblicken hätte man ihn in Stücke schneiden können, ohne daß er etwas gespürt hätte.
Schwanecke heißt er, überlegte Tartuchin. Langsam schloß er die kleinen schwarzen Augen. Heilige Mutter von Kasan, dachte er, es ist wie ein heißer Wind, der mir den Atem nimmt! Ich darf es nicht zeigen, ich darf es nicht zeigen! Ich werde erst wieder atmen und leben können, wenn er tot ist. Er ist ein großer, hungriger Wolf. Ich weiß: Wenn ich ihn töte, wird Rußland weiterleben. Seine Gedanken waren wie trunken, er fühlte seine Knie zittern, und er fürchtete, daß sein grenzenloser Haß - warum haßte er ihn eigentlich so furchtbar, war es nur wegen der Wunde an der Hand oder war es etwas anderes? - aus seinen Augen leuchten würde, wenn er sie aufmachte.