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»Geh!« sagte er dann hart zu Tartuchin.

»Gehen? - Wohin?« In Tartuchins leblosen Augen glomm es auf.

»Wie soll ich das wissen? Verschwinde, woher du gekommen bist, zu den Deinen .«

»Meinen?«

»Stell dich nicht dumm!« sagte Schwanecke böse. »Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist und wohin du gehörst?«

»Du weißt!« sagte Tartuchin bestätigend. »Und warum du mich nicht tötest?«

»Ich tu’s, bei Gott, ich tu’s! Aber nicht hier!«

Blitzschnell griff Schwanecke über den Tisch, packte Tartuchin an der Brust, zog ihn mit übermenschlicher Kraft über den Tisch zu sich und schleuderte ihn gegen die Tür. »Geh!« schrie er, »hörst du? Wir treffen uns wieder, hau ab!«

Der Mongole fiel auf den Lehmboden neben der Tür. Stumm erhob er sich, ohne zu dem anderen zurückzuschauen, öffnete die Bohlentür und trat hinaus in den Schnee. Kälte wehte in den Raum und ergriff Schwanecke, der bleich am Tisch lehnte. Er sah noch, wie sich Tartuchin Schneeschuhe an die Pelzstiefel schnallte - breite, geflochtene, fast kreisrunde Treter, wie sie die Mongolen Innerasiens tragen, wenn der Schneesturm über den Himalaja und den Pamir heult und die Steppen zu einem eisigen Meer werden. Dann hörte er die knirschenden Tritte, die sich schnell entfernten.

Kronenberg war es, der Schwanecke wie aus einem Traum weckte. Polternd kam er in die Blockhütte, einen Sack Kartoffeln nach sich ziehend, den er in einem der Bauernhäuser unter Stroh versteckt gefunden hatte.

»Mensch, Karl, was is’n los?« rief er. Schwanecke schreckte empor und starrte Kronenberg abwesend an. »Was hast du mit dem Iwan gemacht? Der Kerl läuft wie’n Mondsüchtiger an mir vorbei, gibt keine Antwort und zockelt über die Steppe, als wollte er zu Fuß nach Moskau.« Er legte den Sack neben die Tür und kam in den niedrigen Raum. Der Geruch der Machorkazigaretten lag noch in der Hütte, beißend, streng, zum Husten reizend. Kronenberg schnupperte. »Geraucht habt ihr auch? Friedenspfeifchen, was?«

Schwanecke stieß sich vom Tisch ab, ging wortlos an Kronenberg vorbei, trat den Kartoffel sack, der den Eingang versperrte, zur Seite und stand dann in der kalten, niedrigen Nachmittagssonne. Der Schnee blendete. Wenn man die Augen schloß und die Lider nur einen kleinen Spalt öffnete und durch die Wimpern über den Schnee blickte, schimmerte er fast blau. Im Dorf wurden die Lastwagen hinter die Scheunen gefahren, über das Schneefeld außerhalb des Dorfes kam ein kleiner, geheizter Motorschlitten gefegt. Wahrscheinlich Verwundete für das neue Lazarett.

Kronenberg schleifte seinen Kartoffelsack hinter sich durch den Schnee und versuchte keuchend, Schwanecke auf den Fersen zu bleiben. »Was ist denn los mit dir?« fragte er. »Hast du die melancholische Tour?«

Ohne sich umzudrehen, stieß Schwanecke zwischen den Zähnen die zur damaligen Zeit häufigste Redensart aus, verlängerte seine Schritte und verschwand hinter einer Kate.

»Der wird nie ein feiner Mann«, sagte Kronenberg seufzend und wischte sich über die Stirn. »Auch nicht, wenn er klassische Dichter zitiert .«

Im Lazarett stand Dr. Hansen am Operationstisch.

Deutschmann assistierte ihm. Sie arbeiteten schweigend, schnell, als wären sie bereits jahrelang aufeinander eingespielt. Nachdem der letzte Verwundete »aufgearbeitet« war, wie es in der Sprache der Kriegsärzte hieß - eine tiefe Oberschenkelwunde mit einem zackigen Granatwerfersplitter knapp neben dem Knochen -, machten sie eine Zigarettenpause. Mit ausgestreckten Beinen und zusammengesunkenen Oberkörpern saßen sie eine ganze Weile schweigend auf zwei Kisten und pafften die Tabakwölkchen vor sich hin.

Dr. Hansen nahm ein paarmal Anlauf, um den älteren, stillen Mann mit dem schmalen, bleichen Gesicht etwas zu fragen, aber seine angeborene Schüchternheit ließ ihn nicht sprechen.

»Es gibt doch etwas, was Sie wissen möchten, Herr Unterarzt?« half ihm Deutschmann endlich lächelnd.

»Ja - allerdings - Sie sind doch .«

»Arzt«, sagte Deutschmann trocken.

»Ja. Und - wie - wie kommen Sie eigentlich hierher?«

»Befehlen Sie mir zu antworten?« fragte Deutschmann.

»Nein - natürlich nicht«, sagte Dr. Hansen verwirrt.

»Dann lassen wir es dabei, daß ich eben hier bin. Herr Unterarzt.«

Sie schwiegen.

»Und jetzt sind Sie - Hilfssani ...«, sagte Dr. Hansen

schließlich.

»Ja.«

»Wenn Sie wollen - ich meine, es wäre bestimmt am besten für uns, für das Lazarett - könnte ich mit Dr. Bergen sprechen und Sie anfordern ... Wir haben ganz wunderbar zusammengearbeitet ... Was meinen Sie?« sprach Dr. Hansen eifrig und sah dabei Deutschmann fast bittend an. »Sie könnten hier bestimmt mehr leisten als dort vorne ... Ich würde mich sehr freuen .«

»Ich danke Ihnen«, sagte Deutschmann langsam. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich bleibe, wo ich bin. Seien Sie mir nicht böse. Ich bin kein Chirurg, Kronenberg ist bestimmt anstellig genug - ich denke, daß ich dorthin gehöre .« Mit dem Kinn deutete er gegen das kleine schmutzige Fenster und gegen das entfernte Donnern und Rollen eines plötzlichen Feuerüberfalls der russischen Artillerie. Seine Stimme war bestimmt und trotzig. Er wußte selbst nicht, warum er dieses Angebot ausschlug. Hier, im »Lazarett«, hätte er sicher viel mehr Chancen durchzukommen als vorne bei der Truppe. Doch plötzlich erschien ihm das irgendwie gleichgültig. Er fragte sich leicht verwundert, was ihn wohl zu diesem Verzicht getrieben hatte. Es gab nichts, was dagegen sprach. Und trotzdem ...

»Nein, nein, lassen Sie’s, es ist wahrscheinlich falsch, was ich tue, aber auch nur bedingt falsch. Da draußen sind meine Kameraden ... Aber es ist nicht nur deswegen ...«, suchte er nach richtigen Worten, unfähig, sie zu finden.

»Ich glaube - ich verstehe«, sagte Dr. Hansen nachdenklich.

»Na, dann ist es ja gut«, lächelte Deutschmann den Jüngeren an. Sie verstanden sich, und Deutschmann wußte plötzlich, daß er hier einen neuen Freund gefunden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Er stand auf und begann den »Operationssal« von Blut und Fleischfetzen zu säubern.

Draußen im Schnee, am Rande von Barssdowka, stand Schwanecke und sah hinüber zu dem kleinen schwarzen Punkt, der langsam über das Schneefeld kroch, den Wäldern am Horizont entgegen, die bereits in Dämmerung zu versinken begannen: Tartuchin. Der Punkt wurde immer kleiner und verschwand schließlich in einer Senke, als wäre er von der Welt aufgesaugt worden. Schwanecke spuckte aus, drehte sich um und stapfte entschlossen zurück ins Dorf. Es war Zeit, an Aufbruch zu denken.

Vor dem Bauernhaus, in dem der »Operationssaal« eingerichtet worden war, traf er auf Deutschmann. Er lehnte an der Tür, bleich, mager, abwesend. Sein Mund war fest zusammengekniffen. Obwohl er keinen Mantel trug, schien er die bissige Kälte nicht zu spüren.

»Es wird Zeit, daß wir abhauen«, sagte Schwanecke.

Deutschmann nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Ist was passiert?« fragte Schwanecke.

»Nein.«

»Du denkst zuviel, Kumpel«, sagte Schwanecke grinsend, »viel zuviel. Das tut nicht gut. Abschalten, sag’ ich dir!«

»Drei sind gestorben und zweien mußten wir die Beine amputieren«, sagte Deutschmann.

Schwanecke hob die Schultern. »Was ist schon dabei? Als wir Orel stürmten, lief einer neben mir, ein Granatsplitter hatte ihm den halben Kopf abgerissen, und er lief neben mir weiter und brüllte >Hurra<, Gehirn und Blut spritzten herum, er war schon tot, aber er lief immer noch und brüllte. Dann kippte er um, aus. Wir haben keine Zeit gehabt zum Kotzen. Wir stürmten. Keine Zeit zum Denken. Abschalten, Kumpel!«