Obermeier antwortete nicht. Er sah zur Wand, drehte an der Kurbel und rief die 1. Kompanie an.
Krüll sah langsam hoch in die hämisch grinsenden Gesichter seiner Unteroffiziere. »Gut«, sagte er mühsam, »ich gehe heute nacht mit ‘raus. Dann bin ich am Morgen in den Stellungen und kann sie tagsüber ausmessen. Und ...«, jetzt wurde seine Stimme sicherer, »... der Teufel holt euch, wenn es sich herausstellt, daß wirklich fünfzig Meter fehlen!« Er wandte sich ab und verließ schnell die Schreibstube. Hefe sah erstaunt auf die beiden anderen. Kentrop und Bortke schwiegen betroffen. Zum erstenmal hatte Krüll vor ihren Augen einen Kampf gegen sich selbst ausgefochten - und gewonnen. Er hatte ihren Hohn geschlagen.
Obermeier drehte sich herum: »Was steht ihr noch da? Von Babinitschi kommen gleich neue Verschalungsbretter.«
Verlegen und kleinlaut verließen die Unteroffiziere den Raum. Vor dem Haus blieben sie stehen und sahen Krüll zu, der einige Leute anbrüllte, die zu langsam einen Schlitten abluden.
»Er ist wieder ganz der alte«, sagte Unteroffizier Hefe.
»Mensch, das hätte ich nicht von ihm gedacht«, sagte Bortke.
»Macht euch nichts vor«, sagte Kentrop. »Oder wollt ihr etwa behaupten, daß ihr keine Angst habt?«
»Niemand behauptet das«, knurrte Hefe. »Wer hat schon keine volle Hose? Bei Krüll stank es nur mehr als bei den anderen. Bis jetzt jedenfalls. Wir werden ja sehen, ob’s wirklich anders geworden ist.«
Erich Wiedeck und Schütze Katzorki, das Rattengesicht, krochen in einem kurzen, neuen Grabenstück herum und verschalten die kleinen Bunker, die alle 50 Meter als Stützpunkt in das Verteidigungssystem eingestreut waren, als Ernst Deutschmann mit eingezogenem Kopf durch den Graben gelaufen kam und sich neben ihnen schweratmend an die hartgefrorene Grabenwand lehnte.
»Schau mal einer an - wir haben hohen Besuch bekommen«, sagte das Rattengesicht und grinste schief mit seinen schwarzen Zahnstummeln.
»Ist was los!« fragte Wiedeck.
Deutschmann zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte er. »Ich muß warten, bis irgendwas los ist.«
»Da wirst du nicht lange warten müssen«, sagte das Rattengesicht. Die Bretter für die Bunker hatte man nachts durch den Schnee herangeschleift. Als der Morgen graute, machte man sich daran, die nachts ausgehobenen Bunker zu verschalen. In den Gräben blieb jedoch immer nur ein Drittel der Kompanie, der Rest rückte mit dem anbrechenden Tag ab.
Ab und zu zuckte die Erde auf und schüttelte die Männer durcheinander. In kurzen Abständen heulte es durch die eisige Luft heran, tiefer und tiefer wurde der Orgelton, so wie ein Brummkreisel kurz vor dem Umfallen. Dann warfen sich die Männer an die Grabenwand, steckten den Kopf in den Schnee und lauschten mit vor Furcht verzerrten Gesichtern auf das Krachen der Einschläge. Zwei-, fünf-, sieben-, zehn-, zwölfmal donnerte es um sie herum, der Luftdruck drückte sie gegen die
Erde oder hob sie fast vom Boden, Fontänen von Steinen, Eis und Erde spritzten auf und prasselten auf ihren Rücken. Und zwischendurch hörten sie das helle, surrende Pfeifen der glühenden Splitter, die zischend in den Schnee fuhren.
»Verdammt nah!« sagte Wiedeck.
»Hoffentlich kommt’s nicht noch näher«, sagte das Rattengesicht. Seine Stimme zitterte.
Nach dem Ende des Feuerschlages erhoben sie sich und rannten geduckt zu dem nächsten Bunker. Atemlos stolperten sie die Stufen hinab und setzten sich auf die gestapelten Bretter und Grundbohlen. Wiedeck steckte sich eine Zigarette an und gab auch Deutschmann die Packung. Das Rattengesicht rauchte nicht; er betrieb mit den wenigen gefaßten Zigaretten einen schwungvollen Handel um Brot, Butter und Wurst.
»Wenn das so weitergeht, zerhämmern sie die neue Stellung, noch ehe sie fertig ist«, sagte Wiedeck.
»Das ist so wie mit dieser blödsinnigen Näherin, die nachts auftrennte, was sie tagsüber genäht hatte«, sagte das Rattengesicht.
»Nicht ganz«, sagte Deutschmann.
»Oder wie mit diesem alten Germanen, der einen Stein auf den Berg rollte«, spann das Rattengesicht den Faden weiter.
»Er war ein korinthischer König und hieß Sisyphus«, sagte Deutschmann.
»Du hast in der Schule immer gut aufgepaßt«, sagte das Rattengesicht.
»Man sollte das Grabensystem weiter nach Westen legen.« Deutschmann lehnte sich gegen die kalte Erdwand. Sein unrasiertes Gesicht war noch spitzer und schmaler geworden. Er trug keine Rot-Kreuz-Binde mehr; in Rußland war es nicht üblich, und wenn sie jemand trug, dann hatte das meistens keinen Einfluß auf den Gegner; man beschoß gegenseitig die Sanitäter mit oder ohne Binde. »Was nutzt ein Auffanggraben, der kaum tausend Meter hinter der HKL liegt? Wenn die Offensive rollt, sind die tausend Meter völlig ohne Bedeutung.«
»Du hättest General werden müssen«, sagte das Rattengesicht. Wiedeck rauchte mit hastigen, tiefen Zügen. Seit der Geburt des Kindes hatte er nichts mehr von seiner Frau gehört. Seine Briefe blieben unbeantwortet, er wußte nicht einmal, ob sie weitergegeben wurden. Man wußte überhaupt nur das, was man sehen konnte. Und außerdem wußten sie alle, daß sie kein Recht hatten: kein Recht auf Postabgang und Postempfang. Kein Recht auf Pakete und Karten. Kein Recht zur üblichen Truppenverpflegung und kein Recht auf Marketenderwaren. Sie waren Ausgestoßene, Verbrecher, Todgeweihte, in grauen, abgetragenen und geflickten Uniformen, deren Arbeitskraft man so lange ausnutzte, bis sie wertlos war. Daran konnte niemand was ändern, auch nicht Oberleutnant Obermeier oder Hauptmann Barth. Obermeier hatte einmal bei Barth angerufen und nach Post gefragt. »Post?« wunderte sich Barth. »Ja, Obermeier, erwarten Sie denn Post?«
»Ich nicht allein. Meine Männer wissen nicht, was in der Heimat los ist, besonders die Verheirateten sind übel dran.«
»Die Glücklichen! Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie froh sein können, wenn sie nicht wissen, was in der Heimat los ist. So leben sie glücklicher, mein Lieber. Im übrigen geht die Post über das Stammbataillon in Posen. Dort ist ein Major Kratzner Chef des Ersatzhaufens. Ich habe gehört, daß er das goldene Parteiabzeichen besitzt. Zuletzt war er Lehrer an einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt. Zur Zeit ist es auch in Posen ziemlich kalt. Kratzner wird sich an den Briefen die Hände wärmen, wenn er sie in den Ofen steckt.«
»Abwarten!« Das war alles, was Wiedeck von Obermeier erfahren konnte. Nach und nach verfiel auch er, ähnlich wie die andern, in eine Art stumpfsinnigen Fatalismus, den nichts mehr erschüttern konnte. Artilleriefeuer? Na denn! Tote? Im Krieg gibt’ s immer Tote. Arbeit? Bin ich gewohnt. Das Leben? Kotzt mich an. Jetzt sagte er: »Ob tausend oder zehntausend Meter, ist egal. Wir schanzen.«
»Amen«, sagte das Rattengesicht.
»Draufgehen werden wir sowieso alle«, sagte Wiedeck.
»Muß nicht sein«, sagte Deutschmann.
»Glaubst du?« Wiedeck sah auf und lächelte Deutschmann schief an. »Mensch, glaubst du das wirklich? Frontbewährung? Begnadigung; Schwanecke vielleicht, oder dieser da«, mit dem Kinn zeigte er gegen das Rattengesicht, »diese beiden vielleicht, das sind Kriminelle.«
»Na, hört mal!« sagte das Rattengesicht.
». die werden vielleicht begnadigt, um später einmal aufgehängt zu werden. Ich hab’ vielleicht auch eine Chance durchzukommen. Ich bin ja bloß ein blöder Bauer. Aber du, oder der Oberst Bartlitz, oder die anderen Politischen? Die werden begnadigt, wenn sie ins Gras beißen.«
»Ich komm’ bald ‘raus«, sagte das Rattengesicht.
»Niemand kommt ‘raus«, sagte Wiedeck.
»Ich pfeif auf euch Schwarzseher«, sagte das Rattengesicht, stand auf und ging zum Bunkerausgang. »Und ich sage dir, ich komme ‘raus. Es wird nicht lange dauern, und ich bin wieder in Berlin. Wetten? Wenn ich bei Kranzler ganz nobel Kaffee trinke, schreibe ich euch eine Postkarte.« Er grinste über die Schulter zurück und kletterte in den Graben.