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»Bei dem glaube ich’s am Ende selbst«, sagte Wiedeck.

Deutschmann sah aus dem Bunker hinaus auf das kleine Stück Schneewall, das im Eingang sichtbar war. Draußen tastete die leichte Artillerie das Feld ab. Streufeuer.

»Hast du schon einmal deine Frau betrogen?« fragte er zögernd.

»Was?« Wiedeck sah Deutschmann verblüfft an.

»Ob du deine Frau betrogen hast?« »Komische Frage! Warum sollte ich sie betrügen?«

»Hast du sie?«

»Nein.«

»Nicht mal in Gedanken?«

»Blödsinn. Wer tut das nicht? Warum fragst du?«

»Nur so.«

»Und du?«

»Bis jetzt nicht mal in Gedanken. Bis vor kurzem.«

»Mensch - du hast Nerven!«

»Ich habe sie verraten«, sagte Deutschmann schwer.

»Verraten? Wieso? Mit wem? Etwa mit einer - Russin? Wo nimmst du eine Russin her?«

»In Orscha«, sagte Deutschmann.

»Mensch - gibt’s das überhaupt? Ich dachte, das denken sich nur manche aus.«

»Das gibt es«, sagte Deutschmann. »Sie sagte, ich solle hier bleiben. Sie sagte, ich soll nicht mehr nach Hause gehen, und ich weiß plötzlich nicht mehr, was ich tun würde, wenn - wenn ...« Er machte mit der Hand eine hilflose Gebärde, als wüßte er selbst nicht ganz genau, was hinter diesem Wenn stand. Vielleicht: Wenn es plötzlich Frieden gäbe und man bleiben könnte, wo man wollte; wenn er sich über alles selbst im klaren wäre und über seine Sehnsucht, die ihn zugleich zu Julia und zu Tanja; wenn ... »Ein Verrat«, sagte er, »ich habe es getan. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll ... Dieses hier, Strafbataillon, Julia, Tanja, die Erinnerung ... Ich habe nie sehr gut geschlafen, jetzt kann ich es fast überhaupt nicht mehr.«

Draußen hämmerten einige Maschinengewehre. Dazwischen hörte man hell die Abschüsse der leichten Minenwerfer und das dumpfe Krepieren der Gewehrgranaten.

»Es geht wieder los«, sagte Wiedeck. Und: »Wenn du richtig müde bist, wirst du auch schlafen können.« Durch die Luft heulte es hell und kurz auf, und dann krepierten in ihrer Nähe die Granaten der russischen Artillerie. Deutschmann fand sich auf dem Boden liegend, einige Erdbrocken polterten von der Bunkerdecke auf seinen Rücken. Und durch das Sausen und Klingen in seinen Ohren hörte er draußen plötzlich eine menschliche Stimme. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht, woher er sie kannte; denn es war eigentlich keine menschliche Stimme mehr, es waren Laute, die auch ein Tier formen könnte, nicht formen, sondern ausstoßen, ein Tier, das in schrecklicher Angst und Furcht plötzlich die Sprache gefunden hatte, um seine Qual allen verständlich herauszuschreien. »Jesus Maria ...«, sagte die Stimme, wimmerte sie, seufzte, schrie, flüsterte, und alles das zusammen oder nichts davon, »Jesus Maria - was - was ...?« fragte sie, und dann wieder: »Jesus Maria ...«

»Das Rattengesicht!« rief Wiedeck, sprang über den liegenden Deutschmann und kroch aus dem Bunker. Deutschmann sah seine beschlagenen Sohlen, er sah ganz genau, daß viele Nägel fehlten, und dann verschwanden die Sohlen, er stemmte sich hoch, sprang zum Ausgang, fiel auf die Knie und kroch heraus. Seine Tasche war ihm im Wege, sie hing zwischen seinen Beinen und schleifte am Boden; mit einer wütenden, kurzen Bewegung schleuderte er sie auf den Rücken, und dann war er draußen, und das Wimmern war jetzt ganz nah.

An der Grabenwand lehnte das Rattengesicht. Sein Gesicht war grau verfallen, die Nase stach spitz und gelb heraus. Die Lippen waren wie im Krampf von den schwarzen Zahnstummeln zurückgezogen, und aus seinem Mund kamen, ohne daß sich die Lippen bewegten, die gepreßten, wimmernden Laute: »Jesus Maria - Jesus Maria .« Seine Augen stierten auf etwas Blutiges, das vor ihm lag.

Und erst jetzt sah Deutschmann, daß der linke Arm des Rattengesichts auf der ihm abgekehrten Seite an seiner Wurzel abgerissen war. Aus der zerfetzten, riesigen Wunde schwappte Blut, lief die Uniform herunter, färbte den schmutzigen Schnee rot und bildete auf dem gefrorenen Grasboden um Rattengesichts Stiefel eine kleine, schnell größer werdende Pfütze. Rattengesichts Knie gaben nach, er rutschte die Grabenwand herab und blieb auf dem Boden, mitten in der Blutlache sitzen. Dabei starrte er immer noch auf den abgerissenen Arm, der mit abwärtsgekehrter Handfläche und gekrümmten Fingern vor ihm lag. Er hob die rechte Hand empor, als wollte er nach irgend etwas greifen oder auch Halt suchen, aber sein Arm sank kraftlos herab, und er kippte seitwärts um. Dabei sagte er immer noch und nur das: »Jesus Maria - Jesus Maria ...«

Deutschmann schob den erstarrten, leichenblassen Wiedeck zur Seite und beugte sich über das Rattengesicht. Mit fliegenden Händen machte er die Tasche auf und kramte sinnlos in ihr herum, ohne den Blick von Rattengesicht zu wenden. Doch dann verharrte er mitten in der Bewegung.

Es war sinnlos.

Er sah, wie sich über das Gesicht des Verwundeten der Tod ausbreitete.

Kapitel 8

Hinter einer Kate, in der Nähe des Kompaniegefechtsstandes der 2. Kompanie des Strafbataillons, wurde Schütze Werner Katzorki, das Rattengesicht, begraben. Sein Grab lag etwas abseits der zwei Reihen schiefer, schneeverwehter Birkenkreuze; am Tage, als er gefallen war, schlug eine verirrte Granate zwischen sie und riß eine flache Mulde in das steinhart gefrorene Erdreich: Eine willkommene Hilfe für die zwei Hiwis, die Gräber auszuheben hatten.

Das Rattengesicht wurde ohne viel Aufhebens beerdigt. Es war Nacht, und die Kompanie arbeitete vorne an den Ausschachtungen. Nur einige wenige von denen, die am Tage draußen waren, standen etwas hilflos um die flache Mulde, die Katzorkis Grab werden sollte. Der Tote war schon steif gefroren: Mit weit offenem, grinsendem Mund lag er auf einer Zeltplane neben dem Loch. Auf seinem Bauch lag der abgerissene Arm, die riesige Wunde schimmerte rosig durch den weißen Reif, der sich auf ihr niedergeschlagen hatte.

»Na denn«, sagte Wiedeck zu den beiden Hiwis, die teilnahmslos danebenstanden, »macht weiter.«

Die Hiwis packten die Zeltplane auf einer Seite, hoben sie an und rollten den steifen Körper in die Grube; es war verboten worden, die Toten mit Zeltplanen zu begraben. Zeltplanen waren rar, Lebende konnten sie gut gebrauchen, Tote aber brauchten keine mehr.

Vorne, an der Front, blitzte es unausgesetzt. Das Krachen des Artilleriefeuerüberfalls rollte dumpf über die Ebene, dazwischen hörte man das rasende Rattern der deutschen Maschinengewehre und das bedächtigere Tacken der russischen. Ein Hiwi stieg in das Loch und bettete Katzorki so, daß sein Gesicht gegen den stumpfschwarzen, nie ganz dunklen Himmel sah.

Dann buddelten sie ihn zu.

Es wurde keine Rede gehalten und keine Salve geschossen. Bevor der Tote noch ganz zugedeckt war, verließen die Soldaten das Grab. Das einzige, was man für den Toten tun konnte, hatte Deutschmann getan: Auf ein rohes, auf das Birkenkreuz genageltes Brettchen hatte er mit Tintenstift geschrieben:

Soldat Werner Katzorki * 1912 |1943 und darunter klein und flüchtig: Vielleicht hat er es jetzt besser.

Wieder einmal tauchte in Babinitschi Oberleutnant Bevern auf. Was er dort wollte, wußten weder Wernher noch Obermeier, der schnell angerufen wurde - in dem Augenblick, in dem Bevern aus dem Schlitten kletterte, den Mantel zuknöpfte, die Meldung entgegennahm, einen Unteroffizier freundschaftlichleutselig tadelte, weil er keinen Stahlhelm trug, und Wanda, Wernhers Dolmetscherin, nachblickte, die an ihm vorbeiging. Trotz des unförmigen dicken Mantels und der Filzstiefel, die sie trug, konnte man unmöglich übersehen, daß sie verteufelt hübsch war.

»Weibsstück!« knurrte der Adjudant erbittert, als er Wanda nachsah - und dachte im gleichen Augenblick an einen Vortrag, den er beim nächsten Schulungsabend halten wollte: Die Unterwanderung der Moral des deutschen Soldaten durch die russische Frau.