Wernher legte den Telefonhörer wieder auf, betrachtete vom Fenster her Bevern und grinste vor sich hin. »Der wird heute nacht schlecht schlafen«, sagte er zu seinem Spieß. »Wenn der Kerl nicht aus Ton ist, muß Wanda zumindest einen Gedanken bei ihm hinterlassen haben.«
»Es dürfte kaum anzunehmen sein, Herr Oberleutnant«, murmelte der Spieß, bevor er den Raum verließ. Er trug eine Brille, hatte ein gelehrtes Aussehen und sprach - wenn er nicht gerade wütend war - sehr gewählt.
Bevern und Wernher schüttelten sich die Hände.
»Bin wieder im Lande, Herr Wernher! Wundern Sie sich darüber?«
Wernher hob die Schultern.
»Wundern? Nein - warum?« antwortete er gleichmütig. »Im Krieg muß man immer mit unangenehmen Überraschungen rechnen.«
»Danke.« Bevern bekam ein steifes Kreuz. Doch dann überlegte er, daß er sich zusammennehmen und den ersten Schritt zu einer Versöhnung tun mußte oder wenigstens zum guten Einvernehmen, denn Versöhnen mußten sie sich ja eigentlich nicht, da sie ja nie gestritten hatten. Das Offizierskorps mußte zusammenhalten wie Pech und Schwefel, in guten wie in schlechten Zeiten, besonders in schlechten oder - schwierigen. »Warum sind Sie eigentlich so abweisend?« fragte er beschwichtigend. »Sie tun geradeso, als ob ich auf der Welt wäre, nur um Sie zu ärgern. Wir müssen zusammenhalten, wir sitzen ja doch alle zusammen in einem Boot.«
»Nur, daß Sie verkehrt rudern«, brummte Wernher mißmutig.
»Sie sind ungerecht. Ich tue nur meine Pflicht.«
Wernher setzte sich. »Aha«, sagte er, »nur Ihre Pflicht. Gut, gut. Vor drei Tagen zum Beispiel haben Sie die Urlauber aus dem Lazarett oder dem Truppenverbandsplatz Barssdowka in Orscha gesammelt und haben mit ihnen einen Ausmarsch gemacht. Das war Ihre - Pflicht, was, Herr Bevern?« Den letzten Satz sagte er langsam und betonte jede Silbe. »Verwundete, die bei jeder regulären Truppe für sechs Wochen nach Hause geschickt würden. Ich weiß, ich weiß ...«, winkte er ab, als Bevern etwas entgegnen wollte, »wir sind keine reguläre Truppe, bei uns gibt es keinen Urlaub. Bei uns gibt es nur eine Erholung in der Etappe. Erholung in Orscha. Daß ich nicht lache! Und dort, in dieser >Erholung< - da stehen Sie, sammeln die Männer, die zum Teil noch halb offene Wunden haben und marschieren mit ihnen hinaus. Drei-vier, ein Lied! Sie lassen sie durchs Gelände robben, Sie veranstalten Kasernenhofdrill, machen Grußübungen, Parademarsch, Gewehrkloppen und Nachtmärsche - und das mit Leuten, die sich kaum auf den Beinen halten können!«
Oberleutnant Bevern sah aus dem Fenster. Sein junges Gesicht war hochmütig und verschlossen.
»Abhärtung!« sagte er schließlich. »Militär und Krieg sind keine Ausflugsfahrt ins Blaue. Bewegung hat noch nie jemandem geschadet.«
»Das fragen Sie mal jemanden, der mehr davon versteht. Zum Beispiel einen Arzt.«
»Ach was!« sagte Bevern wegwerfend.
»So was nennt man Sadismus, Herr Bevern.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Nirgendwo steht, daß Rekonvaleszenten unmilitärisch behandelt werden sollen. Gesund oder - weniger gesund, sie bleiben Soldaten! Ja - verstehen Sie denn nicht, Herr Wernher, wir brauchen Soldaten, ganze Kerle, hart und unnachgiebig gegen sich selbst. Nur dann werden auch sie hart, unnachgiebig und mitleidlos gegen unsere Feinde sein. Sie sind doch Offizier, das müßten Sie verstehen! Hören Sie, Herr Wernher, wir müssen einen verdammt schweren Kampf ausfechten, vielleicht ist es noch ein langer Weg zum Endsieg ...«
»Hören Sie damit auf! Wenn ich das höre, denke ich an eine Schallplatte mit einem Sprung, die immer dasselbe leiert: hart -hart - hart - Endsieg - Endsieg - Endsieg .«
Bevern fuhr herum. Sein Gesicht und seine ganze angespannte Gestalt drückten einen einzigen Gedanken aus: Jetzt hab’ ich dich.
»Sie glauben etwa nicht daran?« fragte er leise, lauernd.
»Wieso?« Wernher sah den andern treuherzig an. Mein Gott, wie dumm du bist, dachte er, wie entsetzlich dumm! Und ausgerechnet du glaubst, mich zu erwischen!
»Ihre Äußerung .«
»Hören Sie, Bevern, dafür könnte ich Sie belangen. Sie wollen mir Worte in den Mund legen, die ich nicht einmal im Traum sagen würde. Es spricht nicht für Ihre intellektuellen Fähigkeiten, wenn Sie das, was ich damit sagen wollte, nicht verstehen können, nämlich: Warum soll man immer ein Wort wiederholen, von dem man ohnehin weiß, daß es wahr ist und daß es nichts anderes geben kann. Sie wissen ja: Ein Wort kann durch allzu häufige Wiederholung nur entweiht werden. Und das Wort >Endsieg< muß uns allen heilig sein.«
Bevern schwieg verblüfft. Alles andere hätte er erwartet, nur das nicht. Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen und sagte schließlich hilflos, nur um etwas zu sagen:
»Wenn - wenn wir uns darüber klar sind - warum dann diese Distanz zwischen uns?«
Wernher erhob sich. Er trat einen Schritt vor und sah Bevern kalt an:
»Unsere Weltanschauung beinhaltet zugleich Achtung vor einem Menschen, Herr Bevern. Sie sind ein schlechter Nationalsozialist. Ich bin nicht in der Partei, und doch würde ich mir Sachen, die Sie tun, niemals erlauben. Ich verabscheue Sie. Was Sie mit den Leuten machen, die endlich einige Tage Ruhe haben sollen, weil sie verwundet sind, weil sie für Deutschland geblutet haben - auch wenn sie in einem Strafbataillon sind, ist gelinde gesagt hundsgemein. Ich schäme mich, mit Ihnen die gleiche Offiziersuniform zu tragen. Sie sind nicht nur ein schlechter Nationalsozialist. Sie sind auch ein Schwein, ein sadistisches Schwein!«
Oberleutnant Bevern verließ wortlos die Bauernhütte. Leichenblaß, wie betäubt, blieb er einige Augenblicke auf der Straße stehen. War das noch Wernher - der zwar spöttische, aber doch verträgliche Wernher? Er sprach wie Obermeier, er sprach wie alle Feiglinge, denen es die deutsche Wehrmacht zu verdanken hatte, daß sie nicht mehr die durchschlagende, unbesiegbare Kraft der ersten Jahre hatte. Bröckelte das Offizierskorps auseinander? Was hat er gesagt? Ein schlechter Nationalsozialist! Und das mir! Ausgerechnet mir! Ein schlechter Nationalsozialist! Weil ich diese Höllenbrut in Orscha durcheinander jagte, weil ich jede Minute meines Lebens für die Idee opfere, weil ich ... diese Distanz zwischen uns?
Langsam, niedergeschlagen ging er zu seinem Schlitten. Und in ihm reifte der Entschluß, trotz allen Widerständen noch mehr als bisher sein Leben der Idee zu weihen. Er wußte, daß er nicht allein war, daß hinter ihm noch andere Männer standen, und er war bereit, sein ganzes Sein in die Waagschale zu werfen für den Sieg; für den wirklichen, endgültigen Sieg, nicht nur über die Feinde draußen, auch gegen die, die sich in den eigenen Reihen eingeschlichen haben. »Abfahren, zum Bataillon!« rief er dem Fahrer mit scharfer, überkippender Stimme zu.
Wernher rief schnell Obermeier an und erzählte ihm, was in seiner Hütte vorgefallen war. Obermeier schwieg eine Weile, und dann kam seine Stimme dünn und verzerrt durch den Draht:
»Du bist wahnsinnig, Wernher!«
»Ich habe es satt, Fritz!«
»Hör mal - ich - wir müssen den Kopf oben behalten, Wernher, wir dürfen uns nicht hinreißen lassen. Was soll aus unseren Leuten werden, wenn wir plötzlich ... wenn wir etwa genauso wie viele von ihnen als Schützen irgendwo in einer Strafeinheit landen?«
»Man kann nicht immer daran denken«, sagte Wernher mit mühsam verhaltener Stimme.
»Aber man muß es versuchen.«
»Ich mußte mich zurückhalten, um nicht seine Fresse zu zerschlagen.«
»Das kann ich dir bei Gott nachfühlen. Halt dich zurück ... Kommst du heute ‘rüber?«
»Ich werd’s versuchen.«
»Also bis dann. Wir müssen irgend etwas finden. Es dürfte doch nicht so schwer sein, diesen Scheißkerl unschädlich zu machen!«
Wernher legte den Hörer auf und sah nachdenklich durch das