Er merkte nicht einmal, daß er in den Schnee fiel und auf allen vieren dem Wald entgegenkroch. Hinter sich zog er einen roten Streifen wie eine dünne Schnur, die sich von seinem Körper abspulte. Er dachte: Laß mich sterben - laß mich sterben - er hat mir die Kraft genommen, den Mut und die Seele ... Aber er kroch weiter, richtete sich auf und taumelte dem Wald zu. Mit der Hand schöpfte er etwas Schnee hoch und drückte ihn auf die brennenden Wunden im Gesicht.
Schwanecke fiel in die Knie, als Tartuchin hinter dem Schneevorhang untergetaucht war. Er lachte immer noch, aber sein Lachen hatte sich gewandelt. Der Triumph war aus ihm verschwunden und machte der Verzweiflung über den rasenden Schmerz Platz. Seine rechte Seite war wie abgestorben, und die Wunde im Rücken brannte, als habe jemand Salz hineingestreut. Mit dem Kopf sank er in den Schnee und fühlte die eisige Kälte dankbar auf seiner Stirn. Doch er durfte nicht - durfte nicht ... Auf den Knien rutschte er über die Straße, zog sich wimmernd an dem Schlitten empor, auf den Sitz und fiel über das Steuerrad.
Er mußte weiter. Jede verlorene Minute brachte ihn näher an den Tod, und er wollte nicht sterben. Er mußte weiter, weiter ... er tastete nach dem Zündschlüssel, drehte ihn herum, gab Gas, der Motor sprang an: klappernd, kalt geworden, rumpelnd. Der Sitz schüttelte.
Und dann schoß der Schlitten heulend davon, von der Straße weg, in einem Bogen über das Feld, zurück zur Straße und mit höchster Geschwindigkeit auf Barssdowka zu.
Schwanecke lag über dem Steuerrad. Er fuhr durch eine nebelhafte Traumwelt, in der nur seine Schmerzen wirklich waren. So kam er in Barssdowka an: ein heulender Schlitten, der wie betrunken von einer Straßenseite zu anderen fuhr und vor dem Verbandsplatz schleudernd in einen hohen Schneehaufen raste.
Langsam, als wollte er auch jetzt noch nicht nachgeben, fiel Schwanecke auf die Seite, versuchte sich festzuhalten und rollte dann zusammengekrümmt in den Schnee.
Kurz darauf fand ihn Jakob Kronenberg ohnmächtig im Schnee liegen.
Berlin:
Dr. Franz Wissek, Chirurg an der Charite, behauptete von sich, er sei ein Glückspilz. Dies läßt sich nur aus seinem Wesen erklären; ein anderer an seiner Stelle hätte von sich gesagt, er sei ein Pechvogeclass="underline" Dr. Wissek hatte nämlich nur ein Bein und auch sonst am Körper einige tiefe Narben, die ihm das Jahr 1941 geschlagen hatte.
Doch hatte seine private Philosophie - aus der Nähe gesehen einiges für sich. Als hoffnungsvoller junger Chirurg wurde er 1939 eingezogen und arbeitete in Polen - Frankreich - auf dem
Balkan - und dann im Rußlandfeldzug an ungezählten Truppenverbandsplätzen. 1941 wurde bei einem Gegenangriff der Russen sein Verbandsplatz überrollt. Die deutschen Truppen fanden ihn nach dem Gegenangriff in einem Loch liegen; sein halb abgerissenes Bein hatte er, so gut es ging, selbst abgebunden. Noch am gleichen Tage wurde es ihm amputiert. Er hätte also allen Grund zur Niedergeschlagenheit. Aber Niedergeschlagenheit paßte nicht zu Wissek, und so sagte er, die meisten seiner Kameraden wären bei dem russischen Artillerieüberfall gefallen, er aber blieb am Leben. Zudem fielen jeden Tag soundso viele junge Menschen. Er aber lebte noch. Ist das etwa kein Grund zu behaupten, man sei ein Glückspilz? Ob mit oder ohne Bein, das bleibt sich gleich. Mit einem Bein kann man genausogut operieren wie mit zwei, zumal seine Kollegen Orthopäden so verteufelt gute künstliche Beine zu bauen verstünden. Die Sonne scheint auch für die Menschen mit einem Bein, sagte er. Und weiter - und das, was man so über ihn hörte, schien ihm recht zu geben - es gäbe auch ‘ne Menge hübscher Frauen, denen es überhaupt nichts ausmachte.
Genauso unbekümmert wie gegen seine eigenen Leiden - bei den langen »Stehsitzungen« im Operationssaal hatte er oft unerträgliche Schmerzen -, war er auch gegen Vorurteile jener Zeit, und was noch wichtiger war, gegen wirkliche oder vermeintliche Gefahren, die aus ihr erwuchsen. Er war früher, bevor Deutschmann zum Strafbataillon kam, sein und Julias Freund gewesen. Er blieb es auch weiterhin.
Und so kam es, daß Julia zu ihm ging, als sie alle Vorarbeiten für den Selbstversuch beendet hatte und darangehen konnte, ihn durchzuführen.
Groß, etwas vornübergebeugt, sich schwer auf sein gesundes Bein stützend, mit lachenden grauen Augen und einem dunklen, wirren Haarschopf über der Stirn, begrüßte er Julia in einem Gang der Charite.
»Ich hab’ dich lange nicht gesehen, Mädchen«, sagte er, und Julia, die in den letzten Wochen und Monaten sehr empfindlich geworden war, bemerkte, daß er sich wirklich freute, sie zu sehen. Es wurde ihr warm ums Herz, und sie fragte sich, warum sie nicht schon eher zu ihm gegangen war - irgendwann, um eine oder zwei Stunden mit ihm in einem Lokal zu sitzen oder draußen auf dem Wannsee zu segeln. Aber dann sagte sie sich, daß es so sicher besser war: Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie nahe daran war, ihr Herz an den großen, unbekümmerten Jungen zu verlieren - genauso wie ein paar Dutzend Mädchen und Frauen vor ihr und nach ihr. Er hatte damals sogar vom Heiraten gesprochen, aber Julia hatte den begründeten Verdacht, daß er desgleichen öfter sagte. Nun ja, vielleicht hätte sie ihn heiraten können, aber sie war nicht bereit, mit einem Mann zu leben, der bewundernd hinter jedem Paar hübscher Mädchenbeine herblickte. Dann lernte sie Ernst kennen, und danach gab es keine Frage mehr, ob sie »Franzl«, wie sie ihn alle nannten, doch noch nehmen sollte.
»Ich brauch’ was von dir«, sagte sie, »du kannst mir bestimmt helfen.«
Der junge Arzt hakte sie unter und zog sie den Gang entlang. »Du weißt, Mädchen, daß du von mir alles haben kannst. Komm, gehen wir in meine Bude, ich habe jetzt ein bißchen frei, wir können ein Glas Schnaps trinken und von alten Zeiten reden. Es war doch schön, oder?«
»Sehr«, sagte Julia.
Sein künstliches Bein schlug hart gegen den glänzenden Fußbodenbelag, und Julia dachte einen kurzen Augenblick daran, wie schwer es diesem jungen, gesunden Menschen, Hansdampf in allen Gassen, sportbegeisterten Schwerenöter doch sein mußte mit seinem Gebrechen - trotz aller zur Schau getragenen Unbekümmertheit und Wurstigkeit. Aber dann dachte sie wieder an das, was sie von ihm haben wollte, und daran, ob es ihr gelingen würde, es auch zu bekommen.
Trotz Überfüllung der Charite hatte es Dr. Wissek fertiggebracht, eine kleine Kammer im obersten Geschoß für sich zu bekommen, obwohl er eine hübsche Villenwohnung in BerlinDahlem hatte. »Hin und wieder braucht man eine Schmollecke bei den ekligen Chefs«, sagte er, als er mit Julia im Aufzug nach oben fuhr. »Außerdem muß man ab und zu in Ruhe meditieren können ...« Allerdings war es in der Klinik allgemein bekannt, daß er gar nicht so selten zu zweit meditierte.
Oben angelangt, bot er Julia den einzigen Stuhl an, setzte sich selbst auf das einfache Feldbett und holte aus einem Schränkchen eine Flasche Kognak und zwei Wassergläser. »So läßt sich’s leichter reden«, lächelte er Julia an, während er einschenkte; und genauso wie früher, konnte sie auch in diesem Augenblick verstehen, daß es wenige Frauen gab, die diesem netten Windhund widerstehen konnten.
Sie tranken, und er schenkte gleich wieder ein.
»Nicht doch, oder willst du unbedingt ein Saufgelage veranstalten?« fragte sie. Der Kognak wärmte sie und überzog ihr Gesicht mit einer leichten Röte.
»Hübsch bist du - viel hübscher noch als damals«, sagte er leise, während er sie bewundernd anblickte.
»Laß uns über ernste Sachen sprechen«, sagte sie abweisend aber es tat ihr wohl, daß er es gesagt hatte, es tat ihr gut, hier zu sitzen und mit ihm Kognak zu trinken - auch wenn es aus einem Wasserglas war, aus dem schon weiß Gott wie viele vor ihr Kognak getrunken hatten.
»Schieß los, was gibt’s?«
»Du weißt, daß sich Ernst mit Aktinomyzessarten beschäftigte, mit Strahlenpilzen ... Er war schon ziemlich weit, als diese - diese ...«